Bades Meinung

Integrationspolitik im Wahljahr 2013

Die Initiative "DeutschPlus-Wahlcheck - Bundestagswahl 2013" läuft auf Hochtouren. Schon mehr als 10.000 User haben das WahlNavi angewählt. Am Montag gab es zu dieser Wahlinitiative eine Diskussionsveranstaltung mit Politikern aller im Bundestag vertretenen Parteien. Der Veranstaltung ging die Keynote des Migrationsforschers Prof. Dr. Klaus J. Bade voraus. Wir dokumentieren sein Impulsreferat im Wortlaut.

Von Mittwoch, 11.09.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 12.09.2013, 23:09 Uhr Lesedauer: 17 Minuten  |  

Ein Paradox ist zu vermelden: Einerseits sind in der Wahlarena, wie schon in den letzten Wahlkämpfen, die Themen Migration und Integration bislang kaum populistisch in Stellung gebracht worden – abgesehen von rechtsextremistischen Kleinparteien und von alarmistischen Statements von Bundesinnenminister Friedrich.

Andererseits ist kaum je im Wahlvorfeld so viel an kritisch vergleichender Orientierungshilfe zu Migrations- und Integrationspolitik angeboten worden. Das gilt vor allem für den durch die Stiftungen ermöglichten DeutschPlus-Wahlcheck – Bundestagswahl 2013; dazu gehört die vergleichende Expertise von Timo Lochocki über Integrationspolitische Themen im Bundestagswahlkampf 2013 sowie das interaktive Webmodul WahlNavi.de und natürlich auch die heutige Podiumsdiskussion.

___STEADY_PAYWALL___

Info: Diesen Impulsreferat zum „DeutschPlus-Wahlcheck – Bundestagswahl 2013“ hielt Prof. Klaus J. Bade am 9.9. im Projektzentrum Berlin der Stiftung Mercator (MPZ). Gefördert wurde das „Wahlcheck – Bundestagswahl 2013“ von der Stiftung Mercator, der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Allianz-Stiftung. An der Podiumsdiskussion nahmen teil: Sevim Dagdelen (DIE LINKE), Bijan Djir-Sarai (FDP), Memet Kilic (Die Grünen), Ülker Radziwill (SPD), Christina Schwarzer (CDU).

Schon vorab gab es im Netz die MiGAZIN-Artikelserie Wahlprüfsteine zur Bundestagswahl 2013 mit ihrem Parteienvergleich zu Schlüsselthemen im Bereich Integration und Migration.

Neben diesem Informationspaket gab es die kritisch vergleichenden Analysen des Mediendienstes Integration (mdi) des Rates für Migration (RfM) mit seinen Informationen z.B. über Kandidat/innen mit Migrationshintergrund in den verschiedenen Parteien und deren Platzierung.

Es gab weiter einige Voten des gleichermaßen neutralen Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), dessen Gründungsvorsitzender ich bis 2012 war.

Und es gibt einiges an einschlägiger neuer Forschungsliteratur: Davon nenne ich hier nur die Studie von Orkan Kösemen von der Bertelsmann-Stiftung zu neuen Trends im Wahlverhalten der Einwandererbevölkerung.

Wichtig als humanitäre Mahnung ist für die im Feld von Migration und Integration oft zu wenig bedachten Teilbereiche Flucht und Asyl das Papier von Pro Asyl, Interkulturellem Rat und DGB unter dem programmatischen Titel „Menschenrechte für Migranten und Flüchtlinge“.

Vor diesem Informationshintergrund sage ich Ihnen in 20 Minuten knapp etwas zu vier Punkten über:

  1. die Positionierung von Kandidat/innen mit Migrationshintergrund;
  2. Reichweite und Grenzen im politischen Parteienkonsens;
  3. Integrationspragmatismus und kulturelle Angst;
  4. über institutionellen Reformbedarf auf der Bundesebene.

Am Ende gibt es als Impuls thesenförmig einige Anregungen und Forderungen an die Parteien.

Punkt 1: Zur Positionierung von Kandidat/innen mit Migrationshintergrund
Vermeintlich vertraute Muster im Wahlverhalten der Einwandererbevölkerung verschwimmen: Aussiedler galten lange vorwiegend als CDU-Wähler, Menschen mit türkischem Migrationshintergrund vorwiegend als rot/grünes Wählerpotential.

Download: Die Expertise von Timo Lochocki „Integrationspolitische Themen im Bundestagswahlkampf 2013“ kann heruntergeladen werden unter www. hu-berlin.de. Das Buch von Klaus J. Bade „Kritik und Gewalt: Sarrazin-Debatte, Islamkritik und Terror in der Einwanderungsgesellschaft“ gibt es hier:

Das gilt, wenn es denn je galt, zumindest so klar nicht mehr. Ganz folgerichtig gibt es z.B. nun auch bei der CDU eine muslimische Bundestagskandidatin mit türkischem Migrationshintergrund (die 35-jährige Cemile Giousouf aus Hagen).

Und umso mehr bemühen sich die Parteien durch geeignete Suborganisationen um das mobiler gewordene migratorische Wählerpotential: von der AG Migration und Vielfalt der SPD über das Netzwerk Integration der CDU und das Liberale Forum Vielfalt der FDP bis zu dem neuen Netzwerk von Bündnis 90/Grünen mit dem Namen Yesiliz, d.h. türkisch Wir sind Grün. Sie alle sind Menschen- oder Stimmenfischer, wollen also Bürger mit Migrationshintergrund als Parteimitglieder oder doch wenigstens als Wähler gewinnen.

Aber die Repräsentanz der Einwanderer unter den zur Wahl gestellten Kandidat/innen ist trotzdem nach wie vor prekär. Sie unterscheidet sich damit klar von der Zusammensetzung unseres Podiums, auf dem die Mehrheitsbevölkerung ohne Migrationshintergrund so dramatisch in der Minderheit ist, dass dies die wüstesten Alpträume der xenophoben Rechten übertrifft.

Bestandsaufnahme für Deutschland:

  • Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund: 18,6 Prozent.
  • Volljährige Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund: gut 9 Prozent aller Wahlberechtigten.
  • Kandidat/innen mit Migrationshintergrund für die anstehende Wahl aber: nur rund ein Drittel, ca. 3 Prozent.
  • Mehr noch: Nach Recherchen und Extrapolationen des Mediendienstes Integration (MDI) gibt es unter den Kandidat/innen mit Migrationshintergrund nur 1 Prozent mit chancenreichen Plätzen bzw. Wahlkreisen. Das würde, so der MDI, bei – wie derzeit – angenommenen 620 Sitzen im Bundestag gerade mal 3 Prozent, also nur 20 Abgeordnete mit Migrationshintergrund ausmachen.

Das alles ist einer Einwanderungsgesellschaft unwürdig.

Die Frage nach absoluten Zahlen bei der Verteilung der insgesamt 99 Kandidaten/innen mit Migrationshintergrund auf die bislang im Bundestag vertretenen Parteien (hier ohne die ebenfalls abgefragten 17 Kandidat/innen der Piraten) zeigt folgendes Ergebnis: Das Spitzentrio bilden Bündnis 90/Grüne mit 24 Kandidat/innen, gleichauf gefolgt von SPD und Der Linken, die hier mal etwas gemeinsam haben, nämlich jeweils 20 Kandidaten. Die FDP hat 10, die CDU nur 8 Kandidaten und die CSU scheint gar keine gefunden oder gesucht zu haben.

Auch wenn man die Zahl der Kandidat/innen mit Migrationshintergrund mit der Gesamtzahl der jeweiligen Parteikandidat/innen vergleicht, um die Anteile zu bestimmen, bilden Bündnis 90/Grüne, SPD und Die Linke das Spitzentrio und CDU/CSU das Schlusslicht. Das kann man interpretieren als bloßen Ausdruck wahlstrategischer Entscheidungen, aber auch als Gradmesser für die Anerkennung der Einwanderer als politische Partner. Aktuell Meinung

Seiten: 1 2 3 4

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. Kai Diekelmann sagt:

    Was ich sonst nie poste – hier ist es angebracht: 100% agree!

  2. Saadiya sagt:

    Ich schließe mich Herrn Diekelmann an: 100% like it!

  3. Pingback: Politiker mit Migrationshintergrund: „Ich bin immer noch ein Exot in der Politik“ - Bundestagswahl, DeutschPlus e.V., Diskussionsveranstaltung, Integrationspolitik, Klaus J. Bade - MiGAZIN

  4. Pingback: Klaus J. Bade über das Versagen vor allem des Innenministeriums in der Integrationspolitik

  5. Pingback: Klaus J. Bade: über die nach wie vor unterschätzte Gefahr der Islamfeindschaft

  6. Absolut richtig. Das Bundesinnenministerium ist mit dem Thema Integration überfordert. Integrationskurse sollten vom Bundesministerium für Bildung und Forschung organisiert werden. Das BMBF beschäftigt sich schon ausführlich mit dem Thema des Analphabetismus und könnte auch vernünftige Konzepte für Integrationskurse auflegen. Und dann wären auch legale Beschäftigungsverhältnisse der Lehrkräfte statt der Scheinselbstständigkeit eine schöne Sache. Durch die Scheinselbstständigkeit der ca. 17.000 Lehrkräfte dürften der Rentenversicherung Bund seit 2005 etwa 500 Mio € an Beiträgen entgangen sein, von denen das BMI oder die Träger die Hälfte hätten aufbringen müssen. Weder die SPD, noch die Grünen, noch Schwarz-Gelb interessieren sich dafür, obwohl die Grünen beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages eine Studie anfertigen ließen, die auf die hohe Wahrscheinlichkeit der Scheinselbstständigkeit in Integrationskursen hinweist.