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Verdeutscht und überdeutscht gedeutscht

Ich denke an meinen ersten Tag in Berlin zurück, meine leuchtenden Augen und die Vorfreude, die neue Umgebung und das neue Land zu erkunden. Die Sprache faszinierte mich, die Menschen, die Stadt.

Von Vykinta Ajami Donnerstag, 21.02.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 24.02.2013, 20:35 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Als wäre es gestern gewesen, wo ich noch echte Briefe, auf echtem Papier und im echten Briefumschlag an Familie und Freunde mit den ersten Eindrücken schrieb. Eine Woche später lagen die Neuigkeiten in Briefkästen Litauens, die für mich, eine neue Berlinerin, inzwischen wiederum zum Schnee vom Gestern geworden sind. Innerhalb von einer Woche in einem neuen Land und einer neuen Weltstadt erlebt man mehr als man in den Briefen festhalten kann. Und im Laufe der Jahre hat sich noch viel mehr geändert, als es je in den Briefen festgehalten werden könnte.

In meine Gewohnheiten, mein Speiseplan, sogar in meine Denkweise hat sich viel Deutsches hinein geschlichen. Selbst mein Name hat sich im Laufe der Zeit etwas „verdeutscht“. Die Buchstaben haben sich in der baltischen Konstellation als eine echte Herausforderung für eine deutsche Zunge rausgestellt. Die Noten der Verzweiflung im Ton meines Gegenübers in den Wartezimmern, bei den Anmeldungen und am anderen Ende des Hörers und folglich ein kapitulierendes „Oh Gott“ haben mich zu einem Konrad-Richard-Ida-Sigfried-Ida-Ullrich und einer weiteren Folge deutscher Vornamen gemacht. Mein Name durchlebte auch eine phonetische Wandlung: Die Betonung hat sich um eine Silbe weiter verschoben und auch typographisch hat sich ein litauischer Buchstabe „angedeutscht“- es verschwand ein Punkt auf einem „e“.

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Nun ist mein neu klingender Name mir so vertraut, als wäre er nie anders ausgesprochen und nie anders geschrieben worden. Auch alles andere hier, einst Unbekannte, ist mittlerweile so vertraut. Die Hauptstraßen und ihre Seitengassen, Läden, Kaffees, Museen, Brücken und Baustellen Berlins kenne ich nun wie die eigene Hosentasche. Und auch wenn Berlin es immer wieder schafft, durch seine Größe, seine Vielfalt und Kreativität das Funkeln in meinen Augen zu zaubern, konkurriert das Augenleuchten von damals mit dem Augenblick des Zurückkehrens in die Heimat heute. Dort angekommen flattert das Herz vor Neugier, die Veränderungen der Stadt zu sehen und vor der Sehnsucht, den alten Erinnerungen zu begegnen.

Zu Hause verbirgt jede Treppe, jede Schwelle, jeder Weg Erinnerungen, die für einen Auswanderer mit jedem weiteren Besuch lebendiger als je zuvor erscheinen. Erinnerungen sind auch in den Gesichtern der Menschen, die sich von Jahr zu Jahr verändern. „Für lange oder kurz zu Gast?“, fragt mich mein alter Nachbar. „Zu Hause, für eine Woche zu Hause“, lehne ich entschieden den Gaststatus in eigenem Land ab und bestehe durch die doppelte Betonung auf mein Herkunftseigentum.

Auch in Berlin fühle ich mich längst zu Hause. Denn auch hier verbergen die Straßen und Wege mittlerweile unzählige Erinnerungen. Auch hier bestehe ich auf mein Ankunftseigentum. Denn ich bin nicht nur hier. Ich bin hier angekommen.

Die Herkunft macht eine ganze Menge vom Migrantenleben aus. Aber auch die Ankunft. Und nur beides zusammen macht die Ganzheit aus. Zu meinem Leben gehören die alten Treppen vom alten Zuhause genauso wie die neuen Baustellen der neuen Stadt, die Muttersprache und die neu gelernte Fremdsprache, die alten und die neuen Nachbarn und sogar Kleinigkeiten wie der Punkt auf dem „e“. Ein Punkt hin oder her, würde man denken. Der Punkt auf dem i ist in diesem Fall der Punkt auf dem „e“. Denn der Punkt dabei ist, dass so ein Punkt auf so einem „e“ so wichtig sein kann. Sein Vorhandensein vor allem. Aber auch sein Fehlen ist nicht weniger bedeutsam. Denn das eine bezeugt meine Herkunft und das andere – meine Ankunft.

Das bezeugt Prozesse, die ein Migrantenleben begleiten. Ein Leben zwischen Herkunft und Ankunft besteht aus unzähligen Schritten. Und Strecken, die in verschiedene Richtungen zurückgelegt werden, einige gegen, manche entgegen. Viele zurück zu der Herkunft, und noch mehr Richtung Ankunft. Manche bedacht, andere ganz automatisch, viele mit Gewinnen und einige mit Verlusten.

Verlust eines Punktes auf einem Buchstaben ist nicht so dramatisch, es ergibt sich von ganz alleine, wenn es um Vereinfachung der Alltagssituationen geht. Aber ein echter Jammer ist der Verlust der eigenen Identität und das Streben nach einer fremden. Einbürgerung und nicht „Eindeutschung“ heißt es schließlich. Einiges „verdeutscht“ sich im Prozess der Ankunft sowieso, manches wird vielleicht absichtlich „angedeutscht“. Aber das Vergessen der eigenen Herkunft wäre einfach überdeutscht gedeutscht. Aktuell Meinung

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