Der Nationalstaat und seine Einwanderer
Was die Deutschen für die Integrationsdebatte aus ihrer Geschichte lernen können
Seit Anfang des 21. Jahrhunderts findet in Deutschland ein Umdenken statt: Die zahlreichen hier lebenden Menschen nichtdeutscher Herkunft werden endlich als Einwanderer begriffen. Seitdem wird unter dem Begriff Integration eine Staats- und Gesellschaftspolitik verfolgt, die diese Einwanderung zu gestalten versucht.
Von Zafer Şenocak Dienstag, 13.04.2010, 7:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.04.2015, 21:39 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Gleichzeitig vollzieht sich ein anderer Paradigmenwechsel: Mit der deutschen Einheit entstand mitten in Europa ein Nationalstaat Deutschland, der sich immer stärker von der alten Bundesrepublik unterscheidet. Das hat nur bedingt mit der Eingliederung Ostdeutschlands zu tun, vielmehr gibt es ein verändertes Gefühl für die eigene Identität. Man konfrontiert die heikle deutsche Geschichte zunehmend mit der Gegenwart, einzelne Kapitel aus dem Geschichtsbuch Deutschland werden umsortiert und neu gewichtet.
Selbsterfahrungsthemen haben Konjunktur. Mit der Erinnerung an die Vertreibung, die Bombenopfer im Zweiten Weltkrieg und die Vergewaltigung deutscher Frauen durch Besatzungssoldaten findet eine Aufarbeitung deutschen Schmerzes statt. Gleichzeitig wird die Gegenwart eher als fröhliche, lockere Unternehmung inszeniert: Seht her, wir können feiern, haben Humor und ein modernes, weltoffenes Staatssystem. Deutschland kann sich sehen lassen in der Welt. Identität wird zur Marke, für die man gerne wirbt, die sich auch plakativ verwenden lässt.
Wie aber hängen Geschichte und Gegenwart heute zusammen? Wie viel Vergessen, wie viel Erinnern braucht die deutsche Gegenwart? Bezeichnenderweise tauchen Fragen der deutschen Geschichte und zur veränderten Selbstwahrnehmung bei der Einwanderungsfrage nicht einmal am Rande auf. Denn die verkrusteten Wunden der Nation drohen wieder aufzureißen, wenn man die Historie mit den gegenwärtigen Herausforderungen konfrontiert, die aus der Einwanderung resultieren. So entsteht ein merkwürdiges Schweigen, ja oft auch eine strikte Ablehnung, wenn man die deutsche Geschichte und die türkische Zukunft des Landes in Zusammenhang bringt. Türkische Zukunft ist ein Bedrohungsszenario, gewinnt darin doch eine Minderheit an Bedeutung, die sich im Lande etabliert hat.
Und wie wird heute aus einem Türken ein Deutscher? Es lohnt sich, sowohl für Einheimische als auch für Einwanderer, dafür jene Kapitel in der Geschichte Deutschlands aufzuschlagen, in denen es um die polnische Einwanderung im 19. Jahrhundert geht oder um die Integration und Assimilation der Juden in der Moderne. Wie war das denn mit der polnischen Einwanderung ins deutsche Kaiserreich? Wer erinnert sich heute noch an den erbitterten Sprachenstreit, bei dem es genau wie heute mit dem Türkischen darum ging, die polnische Sprache aus der deutschen Realität auszuschließen?
In jeder Ecke stößt man hierzulande auf ein Geschichtsthema: Die traumatische Erfahrung des Nationalsozialismus, des Krieges, des Völkermords an den europäischen Juden, aber auch das Leid der deutschen Bevölkerung durch Krieg, Flucht und Vertreibung haben sich tief ins Gedächtnis eingegraben. Deshalb wirkt nichts unglaubwürdiger als ein geschichtsloses und damit gesichtsloses Deutschland. Die Einwanderungsfrage aber wird von all dem ferngehalten. Integrationsgipfel, Islamkonferenz, Debatten und Veranstaltungen zum Thema – der gesamte Politikentwurf wird so lanciert, als ginge es lediglich um die Integration Nichtdeutscher in die deutsche Gesellschaft.
Dieser Vorgehensweise liegt ein assimilatorischer Impuls zugrunde: Assimilation ist in der Tat eine der Möglichkeiten, sich in ein fremdes Land zu integrieren. Doch sie wird nicht gelingen, wenn die Prägungen aus der Geschichte von den Konferenztischen ferngehalten werden. Diese Prägungen wirken im aktiven Gedächtnis wie in den Tiefenschichten des Bewusstseins weiter. Sie schleichen sich in die Sprache ein, sie überraschen, verunsichern. Meinung
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