Wolfgang Schäuble

„Ein ganz bitteres Kapitel in unserer Migrationsgeschichte“

In einer Festveranstaltung der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) in Berlin vom 25.03.2009 haben anlässlich des Inkrafttretens des Grundgesetzes vor 60 Jahren unter anderem Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine Rede gehalten. Darin sprach Wolfgang Schäuble von einem ganz bitteren Kapitel in der Migrationsgeschichte.

Freitag, 27.03.2009, 13:01 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 02.02.2011, 1:41 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Die Rede von Wolfgang Schäuble in gekürzter Schriftform:

… Heute leben in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen türkischer Herkunft. Begonnen hat die Zuwanderung aus der Türkei vor fast 50 Jahren mit der Anwerbung von türkischen Arbeitnehmern. Als die Migranten – die damals noch Gastarbeiter hießen –, in den 60er und 70er Jahren zu uns kamen, hat man sich in erster Linie mit den Grundbedürfnissen wie Wohnen und Arbeit befasst. Als sie kamen, gingen zunächst alle – auch sie selbst – davon aus, dass sie irgendwann wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden. „Wir haben einfach vergessen, zurückzukehren“, sagt der Vater des bekannten türkeistämmigen Regisseurs Fatih Akin in dessen gleichnamigen Dokumentarfilm und bringt damit diese Entwicklung treffend zum Ausdruck.

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Viele der türkischstämmigen Mitbürger leben schon sehr lange in Deutschland, sie sind zum Teil hier geboren und einige haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Aber alle verbindet eine gewisse Ambivalenz im Verhältnis zu Deutschland, das Land, in dem sie ihre Familien gegründet haben, wo sie arbeiten und leben. „Wir haben zwei Heimaten. Wir leben hier und in der Türkei.“ So die Aussage einer 19jährigen Abiturientin. Aus ihr spricht die Suche nach der eigenen Identität und Herkunft.

Migrationsforscher raten hier zu Geduld. Sie fordern uns auf, Integration als einen Prozess zu verstehen, der für Einwanderer eine lebenslange Aufgabe ist und auch noch nicht in der zweiten oder dritten Generation abgeschlossen sein muss. Auch aus meiner Sicht trifft dies die Realität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.

Zugleich müssen wir anerkennen, dass auch wir es Zuwanderern nicht immer einfach gemacht haben, den Erwartungen gerecht zu werden. In Deutschland wurden in den 70er und 80er Jahren viele ausländische Kinder nur wegen Sprachschwierigkeiten an Sonderschulen verwiesen. Das ist ein ganz bitteres Kapitel in unserer Migrationsgeschichte. …

Ein weiterer Aspekt, der in einem engen Zusammenhang mit der Integrationsdebatte steht, ist das Thema Religion und das Verhältnis zum Islam. Wie alle modernen freiheitlichen Verfassungen gewährt auch das Grundgesetz Religionsfreiheit. Unsere verfassungsrechtlichen Regelungen zum Verhältnis zwischen dem Staat und Religionsgemeinschaften, die wir traditionell mit dem Begriff „Staatskirchenrecht“ bezeichnen, ist auf ein Verhältnis der Partnerschaft angelegt. Wir sind säkular und weltanschaulich neutral, aber wir sind nicht laizistisch oder säkularistisch. Denn auch der säkulare Staat ist angewiesen auf die sinnstiftende Kraft von Religion. Anders als etwa in Frankreich wirkt unser Staat mit den Religionsgemeinschaften zusammen. Der religiöse Bekenntnisunterricht nach Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz ist das wichtigste, aber nicht das einzige Beispiel dafür. Das besondere an dieser „positiven Neutralität“ ist die Verbindung der wechselseitigen Begrenzung der weltlichen und geistlichen Sphäre mit einem positiven Zusammenwirken beider Sphären zum Wohle des Einzelnen und der Gemeinschaft. …

Die Muslime in Deutschland, deren überwiegende Mehrheit aus der Türkei stammt, fordern im Hinblick auf Religionsunterricht an staatlichen Schulen Gleichbehandlung mit den christlichen Kirchen. Die Berechtigung dieses Anliegens ist nicht zu bestreiten. Jedoch wird zu recht von den Gruppen, die als Religionsgemeinschaft Partner des Staates bei der Einführung von Religionsunterreicht sein wollen, die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen verlangt. Das wirft insbesondere für Muslime selbst ziemlich schwierige Fragen auf. Auch deshalb habe ich die Deutsche Islam Konferenz ins Leben gerufen, um in einem dauerhaft angelegten Dialog zwischen Staat und Muslimen in unserem Land ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, wie die die gesellschaftliche und religionsrechtliche Integration von Muslimen in Deutschland verbessert werden kann. …

Wir sollten uns die Offenheit des Grundgesetzes gegenüber Veränderungen erhalten, indem wir es soweit wie möglich aus der tagespolitischen Diskussion heraushalten. Nur als anpassungsfähiges und vitales Grundgerüst unseres Staates kann es mit der ihm innewohnenden Stabilität seine eigentliche Funktion erfüllen und die Eckpfeiler für notwendige Veränderungen setzen. Dann wird es auch um die Zukunftsfähigkeit unseres Landes gut bestellt sein. Politik

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