Joachim Glaubitz, MiGAZIN, Menschenrechte, Flucht, Migration, Asyl, Rechtsextremismus
Joachim Glaubitz © privat, Zeichnung: MiG

Weihnachten gegen die Kälte

Mut, neu zu träumen

Weihnachten zeigt kurz, dass ein anderes Leben möglich wäre. Doch während Krisen und autoritäre Reflexe wachsen, verliert die Gesellschaft die Vorstellungskraft für Veränderung. Utopisches Denken ist deshalb keine Träumerei – sondern nötig.

Von Donnerstag, 18.12.2025, 10:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 17.12.2025, 16:31 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Weihnachten erinnert uns jedes Jahr daran, dass die Welt anders sein könnte: menschlicher, wärmer, gerechter. Inmitten von Krisen flackert ein Moment auf, in dem wir spüren, dass ein Neuanfang möglich wäre – wenn wir ihn uns vorstellen können. Diese kurze Unterbrechung des Alltags öffnet einen Raum, in dem wir uns fragen dürfen, was jenseits der Zwänge unserer Gegenwart liegt.

Denn eigentlich verfügen wir heute über technische, wissenschaftliche und organisatorische Möglichkeiten, wie keine Gesellschaft zuvor. Wir könnten Arbeit reduzieren, Sorge und Zwang verringern und ein Leben schaffen, das von Sinn, Muße, Beziehungen und Schönheit getragen wird. Doch statt diese Potenziale zu nutzen, stabilisieren wir eine Ordnung, deren Legitimität längst bröckelt. Die Fortschritte der modernen Welt dienen nicht der Befreiung, sondern der ständigen Reproduktion des Immergleichen.

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Herbert Marcuse hat dieses Paradox früh beschrieben: Die Voraussetzungen für ein befreites Dasein sind vorhanden, und gerade deshalb erscheint es so widersprüchlich, dass das utopische Denken verschwindet. Obwohl wir die Möglichkeit hätten, Bedürfnisse an Entfaltung statt an Mangel zu orientieren, fehlt uns oft der Wille und die Vorstellungskraft, eine andere Zukunft überhaupt zu denken.

„Überfluss ersetzt Freiheit, Konsum ersetzt Kritik, Funktion ersetzt Leben. Die Welt wird effizienter – aber nicht menschlicher.“

So entsteht ein moderner Zwiespalt: Die technische Rationalität beherrscht die äußere Welt, doch wir verlieren die innere Orientierung – den Blick für das, was möglich wäre. Wir leben in einer Ökonomie, die nicht fragt, was gebraucht wird, sondern nur, was produziert werden kann. Überfluss ersetzt Freiheit, Konsum ersetzt Kritik, Funktion ersetzt Leben. Die Welt wird effizienter – aber nicht menschlicher.

Doch diese Ordnung ist nicht stabil. Immer deutlicher treten die Risse zutage: ökologische Verwüstungen, soziale Spaltungen, politische Zerfallsprozesse, globale Gewalt. Die bisherigen Selbstverständlichkeiten lösen sich auf. Antonio Gramsci beschrieb solche historischen Momente als Zeiten, in denen „die alte Welt stirbt und die neue nicht geboren wird“ – Zeiten, in denen Monster entstehen. Gemeint sind autoritäre Bewegungen, irrationale Feindbilder und politische Akteure, die den Wunsch nach Sicherheit in Ausgrenzung und Gewalt verwandeln.

„Die wachsende Bereitschaft, Geflüchtete zu entrechten… Solche Logiken beginnen immer bei den Schwächsten – aber sie enden nie dort.“

Diese Dynamiken erleben wir heute deutlich, etwa in der wachsenden Bereitschaft, Geflüchtete zu entrechten oder sie als Bedrohung darzustellen. Solche Logiken beginnen immer bei den Schwächsten – aber sie enden nie dort. Sie breiten sich aus, erst zu den Armen, dann zu den Andersdenkenden, schließlich zu allen, die den Anforderungen eines entgleisenden Systems nicht genügen.

In dieser Situation erscheint der Faschismus als „Backup-Plan“ eines Systems, das seine eigene Stabilität nicht mehr anders sichern kann: eine verschärfte Form kapitalistischer Konkurrenz- und Gewaltlogik, die neue Ideen verhindert und Veränderung blockiert. Ein gefährlicher Reflex einer Ordnung, die eher untergeht, als sich zu öffnen.

Gerade deshalb brauchen wir heute das, was Marcuse das „utopische Projekt mit empirischem Gehalt“ nannte: eine konkrete Vorstellung vom guten Leben. Einen Reichtumsbegriff, der nicht in Konsum, sondern in Naturerfahrung, Beziehungen, Solidarität, Privatsphäre und Muße liegt. Eine Befreiung technologischer Möglichkeiten aus dem Diktat des Profits, hin zu den Bedürfnissen der Vielen.

„Eine neue Lebensweise wäre im Kern nicht kompliziert: niemand soll hungern, frieren oder um seine Würde kämpfen müssen.“

Eine neue Lebensweise wäre im Kern nicht kompliziert: niemand soll hungern, frieren oder um seine Würde kämpfen müssen. Menschen sollen Zeit haben, ihre Fähigkeiten zu entfalten, sich gegenseitig zu stützen und ihre Umwelt zu bewahren. Eine Zukunft gestalten, die Hoffnung verdient.

Gerade jetzt, am Ende des Jahres, wenn Menschen sich nach Wärme, Gemeinschaft und Erneuerung sehnen, wird sichtbar, warum wir utopisches Denken brauchen: nicht als Flucht, sondern als Gegenentwurf. Nicht als Traum, sondern als Möglichkeit.

Wenn wir diese Fähigkeit verlieren, wird die neue Welt nicht entstehen. Und die alte wird uns mit ihren Monstern begraben. Meinung

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