
Große Lücke
Deutschland vernachlässigt Rassismusforschung
Ein neuer Bericht zeigt: Trotz hoher gesellschaftlicher Relevanz ist Rassismusforschung in Deutschland kaum institutionalisiert. Brüchige Förderung und große Forschungslücken prägen das Bild. Taucht das Thema auf, dann oft nur als Randaspekt – nur drei von 52.000 Professuren entfallen explizit in den Bereich Rassismusforschung.
Montag, 01.12.2025, 16:31 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 01.12.2025, 16:31 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die Rassismusforschung in Deutschland bleibt trotz hoher gesellschaftlicher Relevanz ein Randthema. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Bestandsaufnahme des Wissensnetzwerks Rassismusforschung (WinRa), die in Berlin vorgestellt wurde. Der Bericht untersucht erstmals, wie das Forschungsfeld an deutschen Universitäten und Hochschulen verankert ist – und welche Lücken es gibt.
WinRa hat dafür den Zeitraum von 2015 bis 2025 in den Blick genommen. Analysiert wurden die strukturellen Rahmenbedingungen, die thematischen Schwerpunkte sowie die Förderlandschaft der Rassismusforschung. Ergänzt wird der Bericht durch Analysen aus der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Sozialen Arbeit, Geografie, Wirtschaftswissenschaft, Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft. Die Bilanz fällt deutlich aus: Es gibt wichtige wissenschaftliche Beiträge, aber es fehlt an Struktur, Dauerhaftigkeit und verlässlicher Förderung. Der nun vorgelegte Bericht zieht nach zehn Jahren Rassismusforschung in Deutschland eine Zwischenbilanz: thematisch vielfältig, wissenschaftlich relevant – aber strukturell prekär.
Zehn Jahre Forschung – ein ernüchterndes Fazit
Besonders sichtbar wird das in der personellen Ausstattung. In Deutschland existieren mehr als 52.000 Professuren. Nach Angaben des Berichts führen davon aktuell lediglich drei eine explizite Denomination im Bereich Rassismusforschung. Eigenständige Studiengänge zur Rassismusforschung gibt es nicht. Das Thema taucht meist nur als Randaspekt in anderen Fächern auf – etwa in der Soziologie, der Erziehungswissenschaft oder den Rechtswissenschaften. Von einer systematischen Verankerung in der Breite der Hochschullandschaft kann nach Einschätzung des Berichts keine Rede sein.
Auch bei der Projektförderung zeigt sich ein brüchiges Bild. Im Untersuchungszeitraum identifizierte WinRa bundesweit 173 drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte zur Rassismusforschung. Auffällig ist der zeitliche Verlauf: 2022 starteten 48 Projekte, 2023 waren es 30 – ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren. 2024 fiel die Zahl der neu begonnenen Projekte jedoch wieder auf das Niveau von 2019 zurück, auf lediglich 14 Vorhaben. Der Bericht wertet diese Entwicklung als Hinweis auf ereignisgetriebene Förderlogiken: Steht Rassismus gesellschaftlich und politisch im Fokus, nimmt die Förderung zu; sinkt die Aufmerksamkeit, geht sie zurück. Dauerhafte Förderlinien fehlen.
Förderlogiken bleiben brüchig
Hinzu kommt: In der Exzellenzförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft taucht das Thema bislang nicht als eigener Schwerpunkt auf. Weder Schwerpunktprogramme noch Sonderforschungsbereiche widmen sich nach der Bestandsaufnahme explizit der Rassismusforschung. Damit bleiben wichtige Möglichkeiten bislang ungenutzt.
Neben der schwachen institutionellen Basis identifiziert der Bericht eklatante Forschungslücken. In zahlreichen gesellschaftlichen Feldern liegen demnach kaum empirische Studien oder systematische Analysen vor. Zentrale Dimensionen rassistischer Ungleichheitsverhältnisse seien in Deutschland bislang nur unzureichend erfasst. Das gelte etwa für den Wohnungsmarkt: Systematische Untersuchungen zu rassistisch diskriminierenden Mechanismen bei der Wohnungssuche oder -vergabe seien rar. Ähnliches konstatiert der Bericht für den Arbeitsmarkt, etwa mit Blick auf Zugänge, Segregation und Aufstiegschancen.
Zentrale Felder weitgehend unerforscht
Im Gesundheitsbereich sieht WinRa ebenfalls deutlichen Forschungsbedarf. Strukturelle rassistische Diskriminierung werde bislang unzureichend erfasst, ebenso die Rassismuserfahrungen von Pflegekräften und medizinischem Personal. Auch zur Polizei gebe es vergleichsweise wenig Forschung – insbesondere zu institutionellen Praktiken und zu den Traumafolgen rassistischer Erfahrungen. Kaum untersucht sei zudem der Zusammenhang von Rassismus, Klima und Umweltgerechtigkeit.
Besonders deutlich fällt die Diagnose bei neuen Technologien aus. Die Auswirkungen algorithmischer Systeme und Künstlicher Intelligenz auf rassistische Ungleichheiten werden im Bericht als nahezu vollständige Forschungslücke beschrieben – obwohl in der öffentlichen Debatte seit Jahren vor verzerrenden oder diskriminierenden Effekten automatisierter Entscheidungen gewarnt wird. Aus Sicht der Studienautor:innen fehlen hier empirische und systematische Studien, um solche Risiken für Deutschland genauer zu verstehen.
Empfehlungen für eine nachhaltige Stärkung
Um die Rassismusforschung dauerhaft zu stärken, formuliert WinRa mehrere Handlungsempfehlungen. Im Bereich Förderung schlägt das Netzwerk die Einrichtung einer mehrjährigen, eigenständigen Förderrichtlinie für Rassismusforschung vor. Diese solle auch Infrastruktur- und Transfermodule umfassen, damit nicht nur einzelne Projekte, sondern auch langfristige Strukturen finanziert werden können.
An den Hochschulen selbst sieht der Bericht erheblichen Nachholbedarf. Empfohlen wird der Aufbau von Professuren mit expliziter Denomination in zentralen Disziplinen – unter anderem in den Rechtswissenschaften, der Medizin und Public Health, der Erziehungswissenschaft und der Soziologie. Zudem regen die Studienautor:innen die Entwicklung eigenständiger Studiengänge zu Rassismusforschung und Rassismuskritik an.
Netzwerkstrukturen und Förderung
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Lehre. Rassismusforschung solle verbindlich in die Curricula einschlägiger Disziplinen integriert werden, insbesondere in der Lehrer:innenbildung, der Medizin, der Sozialen Arbeit, der Rechtswissenschaft und der Soziologie. So könnten künftige Fachkräfte in Bereichen geschult werden, in denen rassistische Ungleichheiten im Alltag besonders sichtbar werden – etwa in Schulen, Justiz, Verwaltung oder Gesundheitswesen.
Schließlich thematisiert der Bericht die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses. WinRa empfiehlt die Förderung von Nachwuchsgruppen mit klaren Tenure-Track-Modellen, um Forscher:innen im Feld Rassismusforschung langfristig binden zu können. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und unsichere Perspektiven würden sonst die Entwicklung des Forschungsfelds weiter ausbremsen.
WinRa ist ein Verbundprojekt von neun Kooperationspartnern. Koordiniert wird das Netzwerk vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin. DeZIM forscht zu Integration und Migration, zu Konsens und Konflikten, gesellschaftlicher Teilhabe und Rassismus. WinRa wird bis Ende 2027 vom Bundesministerium für Forschung gefördert. Ziel des Netzwerks ist es, Rassismusforschung in Deutschland zu vernetzen, strategisch weiterzuentwickeln und Vorschläge für den Ausbau der Forschungsinfrastruktur zu erarbeiten. (mig) Leitartikel Wissenschaft
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