
„Töchter gegen Rassismus“
Tausende protestieren gegen Merz‘ „Stadtbild“-Aussage
Die Kritik nach Merz‘ Stadtbild-Aussage ebbt nicht ab. Luisa Neubauer ruft zu einer Kundgebung vor der CDU-Parteizentrale in Berlin auf. Inzwischen gibt es auch Kritik aus den CDU-Reihen. Derweil geht ein „Straßenbild“-Zitat von Goebbels in Bezug auf Juden viral.
Dienstag, 21.10.2025, 18:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 22.10.2025, 2:16 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Die von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) ausgelösten Debatte um Migration und vermeintliche Probleme im „Stadtbild“ ebbt auch Tage später nicht ab. Inzwischen stößt seine Aussage auch in der eigenen Partei auf Kritik. Der Chef des CDU-Sozialflügels, Dennis Radtke, sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: „Natürlich haben wir an vielen Stellen ein verstörendes Stadtbild, aber zu suggerieren, dies würde sich durch Abschiebungen ändern, ist zu kurz gesprungen, erweckt unerfüllbare Erwartungen und wird der Komplexität des Problems nicht gerecht.“
Radtke, der Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA) ist, sagte weiter: „Probleme wie Drogensucht, Obdachlosigkeit oder Mackertum bei Jugendlichen lassen sich nicht abschieben, sondern müssen angepackt werden.“ Natürlich müssten illegal eingereiste Migranten abgeschoben werden – aber viele Probleme würden fortbestehen. Er mahnte: „Friedrich Merz ist nicht mehr der launige Kommentator am Spielfeldrand, der einen raushaut, sondern ihm kommt als Kanzler eine besondere Verantwortung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, die Debattenkultur und einer positiven Zukunftserzählung zu.“ Die beste Strategie gegen die AfD sei Politik, die Probleme löse, Versprechen einhalte und in der Kommunikation ebenso klar wie empathisch sei, meinte Radtke.
Der Landeschef der baden-württembergischen CDU, Manuel Hagel, mahnte Merz im ZDF-„heute journal“ zu verbaler Abrüstung. Es habe sich in Deutschland etwas verändert – und das habe etwas mit Migration zu tun, aber nicht nur. „Am Ende geht es nicht um Menschen oder Gruppen. Es geht vor allen Dingen darum, dass wir die Probleme – innere Sicherheit, Ordnung in unseren Innenstädten – lösen.“ Viele Menschen mit Migrationshintergrund seien Teil der bürgerlichen Mitte, Teil des Wohlstands, Teil der Wertegemeinschaft. „Und deshalb rate ich da sehr, verbal etwas abzurüsten und sehr differenziert in dieser Debatte auch vorzugehen.“
Laschet: „Stadtbild“-Aussage zu nebulös
Armin Laschet (CDU), ehemaliger Unions-Kanzlerkandidat, hält die „Stadtbild“-Aussage von Merz für „zu nebulös“ und warnt, dass die AfD daraus Profit ziehen könnte. Die Unklarheit dessen, was Merz damit gemeint habe, könnte die AfD für sich nutzen, sagte der heutige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags am Dienstagabend in Düsseldorf. Nur das „Benennen“ des Problems werde die AfD nicht schwächen. „Das Problem lösen wird sie mehr schwächen als das Benennen“, betonte Laschet.
Die AfD werde bei der nächsten Bundestagswahl natürlich fragen, ob das „Stadtbild“ besser geworden sei, sagte der frühere NRW-Ministerpräsident. „Mit so einem unklaren Begriff macht man den Maßstab an die eigene Politik schwer messbar.“ Das könnte die AfD dann nutzen und behaupten, es habe sich am Stadtbild in den letzten Jahren nichts geändert, warnte Laschet. Merz hätte klarer formulieren können, was er gemeint habe, so Laschet. Es gehe beim Stadtbild nicht nur um Migration. Zum Stadtbild gehörten etwa auch von deutschen Süchtigen weggeworfene Drogenspritzen in Parks oder Rechtsradikale, die durch Straßen zögen.
Kritik auch von SPD und den Grünen
SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf warf Merz vor, zu spalten. Es gebe in Deutschland Probleme – und die dürfe man benennen. „Aber das alles immer wieder auf eine Frage zurückzuführen, auf die Frage der Migration, und da so viel miteinander zu vermengen und zu pauschalisieren – das spaltet und das zerstört Vertrauen“, sagte er in der ntv-Talkshow „Pinar Atalay“.
Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) kann die umstrittenen Stadtbild-Aussagen von Bundeskanzler Merz nicht nachvollziehen. „Der Bundeskanzler schließt vom Aussehen eines Menschen auf seine Zugehörigkeit und sein gesetzeskonformes Verhalten. Ich hatte gehofft, eine derartige Haltung hätten wir überwunden“, sagte der Grünen-Politiker. „Es reicht nicht, sich nach sonntäglichen Parteiklausuren von Rechtsextremisten abzugrenzen. Man muss das auch mit Leben füllen.“
Onay forderte, ein Bundeskanzler solle sich „zur Vielfalt bekennen und mit denjenigen ins Gespräch gehen, denen genau das noch schwerfällt“. Merz mache das Gegenteil. „Mir ist unbegreiflich, weshalb der Kanzler seine Worte aus der vergangenen Woche bekräftigt, obwohl er von unzähligen Menschen – nicht zuletzt aus Hannover – die Rückmeldung erhalten hat, dass sie sich von ihm diskriminiert fühlen“, sagte Onay.
Merz bleibt beim Stadtbild-Satz
Der Kanzler war vor einer Woche in Potsdam von einem Reporter auf das Erstarken der AfD angesprochen worden. Merz sagte daraufhin unter anderem, dass man frühere Versäumnisse in der Migrationspolitik korrigiere und Fortschritte mache. „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“ Die Äußerung war von der Opposition, aber auch vom Koalitionspartner SPD kritisiert worden.
Merz verteidigte seine Worte am Montag. „Ich habe gar nichts zurückzunehmen“, sagte er. „Im Gegenteil, ich unterstreiche es noch einmal: Wir müssen daran etwas ändern, und der Bundesinnenminister ist dabei, daran etwas zu ändern, und wir werden diese Politik fortsetzen.“ Nachfragen dazu, was er mit „dieses Problem“ konkret gemeint habe, beantwortete Merz unter anderem, indem er sagte, wer seine Töchter frage, werde auf die Frage, was er mit seinen Äußerungen gemeint habe, vermutlich „eine ziemlich klare und deutliche Antwort“ bekommen.
Dobrindt und Merz um Konkretisierung bemüht
Angesichts des starken Gegenwindes zeigen sich Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Merz inzwischen jedoch bemüht, die Wogen zu glätten. Dobrindt stellte sich am Dienstag zwar weiter klar an die Seite des Kanzlers, konkretisierte seine Aussage allerdings. Dem Boulevardblatt „Bild“ sagte er: „Illegale Migration“ habe das Erscheinungsbild der Städte verändert.
Bereits am Montagabend hatte sich Merz sich zu einem weltoffenen Deutschland bekannt. „Dieses Land ist und bleibt ein Land, in dem auch Menschen aus anderen Ländern, aus anderen Kulturkreisen dankbar aufgenommen werden, wenn sie in Deutschland leben wollen, wenn sie in Deutschland arbeiten wollen und wenn sie bereit sind, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren“, sagte der CDU-Politiker in einer Rede vor der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) in Hannover. Die Integration sei „eine gemeinschaftliche Aufgabe, die wir alle haben“, sagte Merz.
Am Dienstag wollte Merz seine umstrittenen Äußerungen gar nicht mehr kommentieren. „Wenn Sie mir das nachsehen, dieses Thema hat heute keine Rolle gespielt, und es wird auch im weiteren Verlauf des Tages keine Rolle spielen“, sagte er auf eine entsprechende Frage bei seinem offiziellen Antrittsbesuch bei der baden-württembergischen Landesregierung. „Und was ich mit diesem Wort gemeint habe – in der letzten Woche in Potsdam so gesagt, gestern nochmal wiederholt in einer Pressekonferenz – ist deutlich geklärt worden.“
Kundgebung vor der CDU-Zentrale: „Wir sind die Töchter“
Damit ist das Thema allerdings nicht vom Tisch. Tausende Menschen protestierten in Berlin vor der Parteizentrale der CDU. Zu der Veranstaltung unter dem Motto „Feministische Kundgebung: Wir sind die Töchter“ hatte das Bündnis „Zusammen gegen Rechts“ aufgerufen. Laut Berliner Polizei nahmen rund 2.000 Menschen an der Kundgebung teil, die Veranstalter sprachen von 7.500 Teilnehmern. „Wo wir nicht bereit sind mitzumachen, ist als Ausrede angeführt, als Rechtfertigung missbraucht zu werden, für Aussagen, die nichts anderes sind, als inakzeptabel, diskriminierend und umfassend rassistisch“, sagte Umweltaktivistin Luisa Neubauer auf der Bühne mit Blick auf die Siegessäule.
Auf Schildern waren Sprüche zu lesen wie „Rassismus ist ein Problem im Stadtbild“, „Töchter für ein buntes Stadtbild“ oder „Wir haben kein Stadtbild-Problem, sondern ein Rassismus-Problem“. Zudem ertönte Rufe wie „Wir, wir, wir sind das Stadtbild“ und „Wir, wir, wir sind die Töchter“. Bereits am Sonntagabend hatte es am Brandenburger Tor eine Kundgebung unter dem Motto „Brandmauer hoch! Wir sind das Stadtbild“ gegeben. Dabei demonstrierten Hunderte Menschen für Vielfalt und gegen Rassismus. Mehrere Redner kritisierten Merz für seine „Stadtbild“-Aussagen und warfen ihm eine mangelnde Abgrenzung zur AfD vor.
Goebbels-Zitat geht Viral
In den sozialen Netzwerken sorgt derzeit ein Post für Aufsehen, der ein Zitat von Joseph Goebbels verbreitet. In seinem Tagebuch notierte Goebbels am 20. August 1941: „Sie [die Juden] verderben nicht nur das Straßenbild, sondern auch die Stimmung.“ Der Post verbreitet sich rasant. Viele Nutzerinnen und Nutzer erkennen darin eine sprachliche Parallele zur Wortwahl von Bundeskanzler Friedrich Merz. Die Empörung in den sozialen Medien speist sich aus der Erinnerung daran, dass Goebbels das „Straßenbild“ einst als antisemitische Chiffre nutzte, um Ausgrenzung und Gewalt rhetorisch vorzubereiten.
Joseph Goebbels war während der NS-Diktatur Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und einer der engsten Vertrauten Adolf Hitlers. Er prägte maßgeblich die antisemitische Hetze des Regimes und war zentral an der Verbreitung nationalsozialistischer Ideologie beteiligt. Dass sein Vokabular heute in politischen Debatten wieder anklingt, sehen viele in den sozialen Netzwerken als ein Alarmzeichen. (dpa/mig) Leitartikel Politik
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