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Mustafa Yeneroğlu © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Plädoyer

Realität in Zeiten der globalen Regression

Es ist ein Trugschluss, Geschichte werde nur von den Sesshaften geschrieben. Die Menschheitsgeschichte ist eine Chronik der Bewegung. Nicht das Verharren, sondern der Aufbruch haben unsere Zivilisation geformt.

Von Donnerstag, 18.12.2025, 10:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 18.12.2025, 10:37 Uhr Lesedauer: 11 Minuten  |  

Der Internationale Tag der Migranten. Ein Tag, der hier in Ankara weniger im öffentlichen Bewusstsein verankert ist als andere Gedenktage. Dagegen werden heute sicherlich in vielen westeuropäischen Hauptstädten Empfänge gegeben, Sonntagsreden über den Beitrag von Migranten zur kulturellen Vielfalt gehalten und das Gewissen mit Rhetorik für einen Tag beruhigt. Doch als Jurist und als Politiker, der jenseits dieser Rollen selbst eine Migrationsgeschichte hat, muss ich sagen: Der heutige Tag ist weniger ein Anlass zum Feiern, als vielmehr ein Tag des nachdenklichen Blicks in die heutige Zeit und vor allem in die nahe Zukunft.

Die Realpolitik der Angst

Ich richte diesen Blick nach Europa im vollen Bewusstsein seiner aktuellen psychologischen Verfassung. Der Kontinent befindet sich in einem Zustand der nervösen Anspannung. Ich sehe, wie der russische Angriffskrieg in der Ukraine und das Wanken des US-Verteidigungsschirms ein tiefes Gefühl der existenziellen Bedrohung ausgelöst haben. Die geopolitische Tektonik verschiebt sich, und das Gefühl der Sicherheit und des Wohlstands, das Europa Jahrzehnte als selbstverständlich erachtete, bröckelt.

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In diesem Klima der Unsicherheit, verstärkt durch die zunehmenden wirtschaftlichen Sorgen, gedeiht der Nährboden für das Extreme. Wir erleben, wie rechtsextreme Parteien ihren einstigen Randstatus verlieren, Diskurse diktieren und sich in einigen Ländern zu neuen „Volksparteien“ wandeln. Noch beunruhigender als Wahlergebnisse ist jedoch, dass sich mit diesem politischen Aufstieg auch die gesellschaftliche Mitte kulturell und sprachlich verschiebt. Sagbares wird unsagbar, und das Unsagbare wird plötzlich salonfähig. Die etablierte Politik wirkt angesichts dieser Verschiebung oft ratlos, ja fast resigniert, und übernimmt nicht selten in einem Akt der vorauseilenden Anpassung die Sprache und die Konzepte derer, die sie eigentlich bekämpfen wollte und sollte.

Anders als in den 1990er oder frühen 2000er Jahren, als die Zivilgesellschaft bei öffentlichen Auftritten von Rechtsextremisten und rassistischen Ausschreitungen noch hochsensibel reagierte und mit Lichterketten sowie massenhaftem Protest aufstand, herrscht heute eine seltsame Stille. Der Widerstand ist leiser geworden, die Gewöhnung an das Unmögliche größer. Mir ist schmerzlich bewusst, dass in einer solchen Atmosphäre, in der Sicherheit alles und Freiheit immer weniger zählt, die Forderung nach einer fairen, menschenrechtsbasierten Migrationspolitik für viele fast schon absurd, ja weltfremd oder gar bedrohlich klingen mag. Und doch – oder gerade deshalb – muss sie ausgesprochen werden.

Das Unbehagen im Alltag

Ich sage das nicht aus der Distanz eines Elfenbeinturms. Meine Kinder studieren in Köln. Sie berichten mir von Begegnungen im Freundeskreis mit Menschen, die man als „ganz normal“ bezeichnen würde, die keine gefestigten rechtsextremen Ideologien pflegen und dennoch selbstverständlich äußern, die AfD zu wählen oder mit ihr zu sympathisieren. Wenn man nachfragt, gehe es selten um ideologischen Fanatismus oder ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Es gehe um das konkrete, diffuse Gefühl, sich im eigenen Alltag nicht mehr sicher zu fühlen oder die volle Kontrolle nicht mehr zu haben.

„Wer die Augen vor der wahrgenommenen Unordnung verschließt, treibt diese verunsicherten Bürger direkt in die Arme der Populisten, die mit simplen Slogans ‚Sauberkeit und Ordnung‘ durch Abschottung versprechen.“

So sehr mich diese Artikulation – gerade aus dem Mund eines Bundeskanzlers – auch ärgert: Man muss sich ehrlich damit auseinandersetzen, was in Deutschland aktuell als „Veränderung des Stadtbilds“ diskutiert wird. Viele Menschen empfinden den öffentlichen Raum – die Bahnhöfe, die Plätze, die Züge – als zunehmend unordentlich, laut oder gar verwahrlost. Sie sehen Armut, sie sehen Obdachlosigkeit, sie begegnen Menschen, deren Umgangsformen ihnen fremd sind und deren Reaktionen sie nicht einschätzen können. Hinzu kommt eine Infrastruktur, die quietscht und versagt. Dazu die vielen beängstigenden Nachrichten aus aller Welt – die Risiken kommen immer näher. Dieses Amalgam aus sichtbarer Verwahrlosung, verdreckten Zügen und einer als unberechenbar empfundenen sozialen Umgebung erzeugt eine toxische Mischung aus Abwehr und Überforderung.

Es wäre fatal, diese Sorgen pauschal als Rechtsextremismus oder sogar Rassismus abzutun. Wer die Augen vor der wahrgenommenen Unordnung verschließt, treibt diese verunsicherten Bürger direkt in die Arme der Populisten, die mit simplen Slogans „Sauberkeit und Ordnung“ durch Abschottung versprechen. Die Wahrheit ist jedoch komplexer: Was oft als „Krise der Migration“ wahrgenommen wird, ist oft eine Krise der öffentlichen Daseinsvorsorge. Wenn der Staat sich aus der Fläche zurückzieht, wenn Integration nicht finanziert und Wohnraum knapp wird, dann wird das Sichtbarwerden des „Fremden“ zum Blitzableiter für den Unmut über das Nicht-Funktionieren des Gemeinwesens.

Die Große Regression und die Flucht in die Vergangenheit

Um zu verstehen, warum wir an diesem Punkt stehen, lohnt ein Blick auf die Diagnose des Soziologen Zygmunt Bauman. Kurz vor seinem Tod beschrieb er unsere Ära treffend als Zeit der „Großen Regression“. Die Überforderung durch die globale Komplexität, die Auflösung alter Gewissheiten und die Unübersichtlichkeit der Welt führen dazu, dass sich Gesellschaften in eine imaginierte, homogene Vergangenheit flüchten. Bauman nannte dies „Retrotopia“ – die Utopie liegt nicht mehr in der Zukunft, sondern in einer verklärten Vergangenheit, in der die Grenzen angeblich noch dicht und die Identitäten noch eindeutig waren.

„Es ist das perfekte Feindbild für eine verunsicherte Gesellschaft: Der Fremde als Symbol für den Kontrollverlust.“

In diesem Klima der nostalgischen Abwehr gedeiht das politische Narrativ der „Flüchtlingskrise“. Es ist das perfekte Feindbild für eine verunsicherte Gesellschaft: Der Fremde als Symbol für den Kontrollverlust. Doch dieser Begriff ist irreführend. Der Migrationsforscher Hein de Haas hat in seinen umfangreichen Analysen dargelegt, dass das, was wir erleben, keine pathologische Anomalie ist, die wie eine Naturkatastrophe oder eine Krankheit über uns kommt. Migration ist kein Unfall der Geschichte, sondern ein untrennbares Strukturmerkmal von Modernisierung und globaler Entwicklung.

De Haas entlarvt die „Krise“ als ein politisches Konstrukt: Die globalen Wanderungsbewegungen sind, gemessen an der Weltbevölkerung, seit Jahrzehnten relativ stabil. Was sich geändert hat, ist nicht die Quantität der Bewegung, sondern die Hysterie der Wahrnehmung. Die Panik wird kultiviert, weil sie politisches Kapital abwirft. Die eigentliche Krise besteht also nicht in der Bewegung von Menschen, sondern in der Unfähigkeit oder dem Unwillen der Politik, diese Realität rational und pragmatisch zu gestalten, anstatt sie als existenzielle Bedrohung zu inszenieren.

Rückkehr zur politischen Handlungsfähigkeit

Doch wie durchbricht man diesen Teufelskreis aus Angst und Regression? Wie kann eine menschenrechtsbasierte Politik, also auch eine zukunftsorientierte Migrations-, und Flüchtlingspolitik in einer Demokratie überhaupt noch Mehrheiten finden, wenn das Gefühl des Kontrollverlusts dominiert? Die Antwort liegt nicht in moralischer Überheblichkeit gegenüber den Besorgten, sondern in einer Rückkehr zur politischen Handlungsfähigkeit.

Es ist ein fataler Irrtum, den Begriff der „Steuerung“ und „Ordnung“ der politischen Rechten zu überlassen. Ein Sozialstaat, der auf Solidarität basiert, braucht funktionierende Strukturen, um Akzeptanz zu finden. Das erfordert einen Staat, der Probleme nicht verwaltet, sondern löst – durch funktionierende Behörden, schnelle Verfahren und eine belastbare Infrastruktur.

„Man darf Migration auch nicht als reine Bereicherung ohne Reibungsverluste darstellen. Ja, Einwanderung erzeugt Konflikte. Ja, Ressourcen sind endlich. Wenn Politik diese Ambivalenzen anspricht und durch Sachpolitik löst, nimmt sie den Populisten ihren stärksten Hebel: den Vorwurf der Lüge.“

Man darf Migration auch nicht als reine Bereicherung ohne Reibungsverluste darstellen. Ja, Einwanderung erzeugt Konflikte. Ja, Ressourcen sind endlich. Wenn Politik diese Ambivalenzen offen anspricht und durch konkrete Sachpolitik löst, statt sie schönzureden, nimmt sie den Populisten ihren stärksten Hebel: den Vorwurf der Lüge. Die Alternative zur „Großen Regression“ ist ein „pragmatischer Realismus“: Integration fordern und fördern sowie die Daseinsvorsorge so stärken, dass Einheimische und Neuankömmlinge nicht als Konkurrenten um knappe Güter gegeneinander ausgespielt werden können.

Eine funktionierende Sachpolitik ist dabei der einzige Schlüssel, um auch mental in der Realität anzukommen. Solange Migration primär als administrative Überforderung erlebt wird, klingt der Satz „Deutschland ist ein Einwanderungsland“ für viele nicht als Versprechen, sondern als Drohung. Wenn der Staat jedoch durch Taten beweist, dass er die Herausforderungen im Griff hat, wächst die gesellschaftliche Akzeptanz für das Notwendige. Nur durch gute Regierungsarbeit wird der Zustand, in dem Menschen mit Migrationsgeschichte sich wie „Gäste auf Bewährung“ fühlen oder Bedenken um ihre Zukunft haben müssen, überwunden und das Fundament für ein wirkliches „Wir“ geschaffen.

Hier liegt der archimedische Punkt der aktuellen Krise: Eine humane globale Politik kann nur auf dem Fundament einer gelösten Innenpolitik gedeihen. Doch genau diese Kausalität wird derzeit auf den Kopf gestellt. Weil die Politik im Inneren an der Lösungskompetenz scheitert und die Sorgen der Bürger oft nur rhetorisch verdrängt, versucht sie dieses Defizit an Handlungsfähigkeit durch eine demonstrative Härte an den Außengrenzen zu kompensieren. Die Externalisierung der Probleme wird zum Ersatz für die fehlende Problemlösung im Inneren. Man verrät die eigenen Ideale draußen, um von den versäumten Hausaufgaben drinnen abzulenken.

Europa externalisiert sein Gewissen

Aus der Perspektive eines Politikers in der Türkei wird dies schmerzlich deutlich: Europa externalisiert nicht nur seine Grenzen, es externalisiert sein Gewissen. Man starrt gebannt auf die Boote im Mittelmeer, während die geopolitischen Brände, die Menschen erst zur Flucht zwingen, hingenommen oder durch eine inkohärente Außenpolitik sogar befeuert werden.

„In den Augen des Globalen Südens ist der Westen nicht mehr der Garant universeller Menschenrechte, sondern ein Akteur, der diese Rechte selektiv anwendet – gültig für die ‚eigenen‘, verhandelbar für die ‚anderen‘.“

Wer das Sterben im Mittelmeer hinnimmt, ja durch die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung faktisch billigt; wer Pushbacks toleriert und gleichzeitig bei der Aushungerung einer Zivilbevölkerung wegschaut, verwirkt das moralische Recht, sich als globaler Hüter der Zivilisation aufzuspielen. In den Augen des Globalen Südens ist der Westen nicht mehr der Garant universeller Menschenrechte, sondern ein Akteur, der diese Rechte selektiv anwendet – gültig für die „eigenen“, verhandelbar für die „anderen“.

Diese Erosion der Werte hat sich nirgendwo so drastisch wie in der strategischen Taubheit gegenüber dem unermesslichen Leid in Gaza offenbart. Die westliche Reaktion darauf gleicht einem „moralischen Selbstmord“.

Das Ende vom „Recht, Rechte zu haben“

Als Jurist bereitet mir die schleichende Aushöhlung des Migrations-, und Asylrechts in Europa große Sorge. Mit neuen Konstrukten an den Außengrenzen, wie der juristischen „Fiktion der Nichteinreise“, entstehen faktisch rechtsfreie Räume. Menschen, die physisch europäischen Boden betreten haben, werden rechtlich so behandelt, als seien sie gar nicht da.

Wir sehen heute auf beängstigende Weise bestätigt, wovor die Philosophin Hannah Arendt schon im letzten Jahrhundert warnte: Das „Recht, Rechte zu haben“ scheint effektiv nur für jene zu gelten, die Bürger eines funktionierenden Staates sind. Wer staatenlos ist, wer seinen Pass verliert oder wessen Staat zerfällt, verliert paradoxerweise gerade deshalb jeden Schutz. Wenn Europa akzeptiert, dass Rechtsstaatlichkeit an der eigenen Grenze endet, dann wird das Fundament der Demokratie selbst brüchig.

Die blinden Flecken der Zukunft: Klimamigration

Während man sich in Berlin, Paris oder Brüssel in Debatten über Obergrenzen und Grenzzäune verfängt, zieht am Horizont ein Sturm auf, der jede Grenzanlage obsolet machen wird: die Klimamigration.

„Die aktuellen rechtlichen Asyl-Kategorien stammen aus dem 20. Jahrhundert und sind auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht vorbereitet.“

Die aktuellen rechtlichen Kategorien stammen aus dem 20. Jahrhundert und sind auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht vorbereitet. Das klassische Asylrecht basiert auf individueller politischer Verfolgung. Es ist blind für die existenzielle Bedrohung durch eine unbewohnbar werdende Umwelt. Wohin soll ein Mensch zurückkehren, dessen Heimat physisch unbewohnbar geworden ist?

In einer Welt, in der die Klimakrise Lebensräume vernichtet, ist der Versuch, Migration durch Mauern zu stoppen, so sinnlos, wie zu versuchen, das Meer mit Händen aufzuhalten. Anstatt auf militärische Abschottung zu setzen, braucht es vorausschauende Instrumente, legale Migrationswege und globale Solidarität.

Ein Appell an die Vernunft

All diese historischen, juristischen und soziologischen Befunde führen zu einem Schluss: Die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Die „Große Regression“ mag eine verlockende psychologische Flucht sein, aber sie ist keine nachhaltige politische Strategie.

„Mein Appell an diesem 18. Dezember ist kein utopischer Ruf, sondern ein Ruf nach Realismus und Rechtsstaatlichkeit. Migration lässt sich nicht ‚abschalten‘, sie lässt sich nur gestalten.“

Mein Appell an diesem 18. Dezember, dem Internationalen Tag der Migranten, ist daher kein utopischer Ruf, sondern ein Ruf nach Realismus und Rechtsstaatlichkeit. Migration lässt sich nicht „abschalten“, sie lässt sich nur gestalten.

In einer Welt, in der Kapital, Daten, Viren und ökologische Krisen keine Grenzen kennen, ist der Versuch, Menschen hinter Stacheldraht zu sperren und das Elend auszublenden, ein Kampf gegen die Realität selbst. Es braucht eine Ordnung, in der Grenzen kontrolliert werden, ja – aber in der sie keine „Todeszonen“ und keine rechtsfreien Räume sind. Eine Ordnung, in der die Menschenwürde nicht an der Passkontrolle abgegeben werden muss.

Politik darf nicht aus der Angst heraus gestaltet werden. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Sie macht klein, sie macht blind und sie macht anfällig für autoritäre Versuchungen. Stattdessen braucht es den Mut, die Welt so zu sehen, wie sie ist: vernetzt, mobil und voneinander abhängig. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Migration. Man sollte aufhören, gegen die eigene Geschichte zu kämpfen. Meinung

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