
Festung Europa
Wenn der Ausnahmezustand zur Norm wird
Die europäische Mitte spricht längst wie die Rechte. Abschottung wird Normalität, Menschenrechte verhandelbar. Für Migranten ist das keine abstrakte Debatte mehr, sondern eine Existenzfrage: Bleiben oder erneut gehen müssen?
Von Kiflemariam Gebre Wold Dienstag, 16.12.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 15.12.2025, 14:45 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Rechte Parteien treiben die EU vor sich her. Es sind längst nicht mehr nur die Ränder, die Abschottung fordern. Die „Mitte“ hat deren Sprache übernommen. Für uns in der migrantischen Community steht eine existenzielle Entscheidung an. Spätestens bei der Frage meines Enkelkindes: „Wenn die AfD kommt, müssen wir dann Deutschland verlassen?“, ist mir klar geworden, dass es hier um alles geht. Noch in den 80ern und 90ern war es nicht unüblich für Migrant*innen, nach Schweden, Holland oder Großbritannien umzusiedeln, wenn hierzulande wieder mal verbal und physisch über „Asylanten“ und Ausländer hergezogen wurde. Diese Länder galten damals als liberal. Diese Option besteht nirgends mehr in Europa.
Die politische Lage in Europa hat sich stark verändert. Der „Rechtsruck“ ist nicht nur ein Schreckgespenst, er ist Realität. In fast allen europäischen Ländern diktieren rechte und rechtspopulistische Parteien den Takt. Durch den enormen Druck der Straße und der Social-Media-Likes scheint die Übernahme von Staat und Gesellschaft durch die Rechte bald zu gelingen. Selbst dort, wo sie nicht den Kanzler oder Premier stellen, prägen sie die Debatten. Ihre Agenda ist simpel: Zuwanderung wird nicht gestaltet, sondern bekämpft.
Hinter dieser Abwehrfront verbirgt sich mehr als nur Wahlkampftaktik. Europa verändert sein Gesicht. Und für uns, die migrantische Community, ist die Botschaft unmissverständlich: Wir sollen uns entweder der Knute einer autoritäreren Gesellschaft beugen oder diesen Kontinent baldigst verlassen. Es ist eine Zeit angebrochen, in der wir dieses Szenario nicht mehr als Dystopie abtun können – es ist die neue Realität.
„Migration dient als Symbol für eine unübersichtliche, globalisierte Welt. Wer den Wählern einredet, man müsse nur die Grenzen schließen, um ‚Kontrollverlust‘ zu beenden, bietet ein Placebo für ganz andere hausgemachte Krankheiten.“
Rechte Parteien – und zunehmend auch die der sogenannten „bürgerlichen Mitte“ – inszenieren Migration als Mutter aller Probleme. Sie wird zur existenziellen Bedrohung für kulturelle Identität, Sozialsysteme und die innere Sicherheit hochstilisiert. Der Trick dabei ist perfide: Migration dient als Symbol für eine unübersichtliche, globalisierte Welt. Wer den Wählern einredet, man müsse nur die Grenzen schließen, um „Kontrollverlust“ zu beenden, bietet ein Placebo für ganz andere hausgemachte Krankheiten: ökonomische Krisen, soziale Ungleichheit und Zukunftsangst.
Es ist offensichtlich: Parteien wie die Fratelli d’Italia, das Rassemblement National oder die AfD sind wie Treibsätze. Sie haben ihre politische Arbeit professionalisiert und geben sich teils bürgerlich, teils provokant. Das fatale Ergebnis ist nicht ihr Wahlerfolg allein, sondern die Reaktion der anderen: Die etablierten Parteien übernehmen aus Angst vor Wählerverlusten deren Positionen. Was vor einem Jahrzehnt als radikal galt, ist heute Regierungsprogramm. Begriffe wie „Obergrenzen“, „Abschiebeoffensiven“ und „illegale Migration“ sind keine Kampfbegriffe des Randes mehr – sie sind der neue Sound der europäischen Demokratie. Die Ausnahme wurde zur Norm erklärt. Und die Politik verkauft diesen politischen Bankrott als „Realismus“.
Amnesie statt Ursachenbehebung
Dabei verengt sich der Blick tragischerweise auf Zäune, Zahlen und Zunder. Was fehlt, ist die Ehrlichkeit. Es gibt kein Jahrhundert in der Menschheitsgeschichte ohne Migration; sie ist der Motor gesellschaftlicher Entwicklung. Doch Europa igelt sich mental und physisch ein – und verarmt dabei, menschlich wie ökonomisch.1
Völlig ausgeblendet werden die Fluchtursachen, für die Europa historisch und aktuell Verantwortung mitträgt. Dies lässt sich u. a. an drei Punkten festmachen:
- Das koloniale Erbe: Der Wohlstand dieses Kontinents fußt teilweise auf Sklavenhandel und der Ausbeutung des Globalen Südens.
- Neokoloniale Strukturen: Ungleiche Handelsbeziehungen und vom Norden verursachte Umweltschäden zerstören Lebensgrundlagen anderswo.
- Die Versicherheitlichung2: Seit 9/11 wird der Globale Süden fast nur noch durch die Brille der Sicherheitspolitik betrachtet. Migration ist im politischen Denken keine legitime Größe mehr, sondern ein Mittel im proklamierten „War on Terror“.
Die Verstrickungen Europas in zahlreichen Konflikten im globalen Süden werden verschwiegen – sei es durch Waffenlieferungen an Kriegsparteien oder durch militärische Eingriffe ohne UN-Mandat. Statt rechtstaatliche Asylsysteme zu erhalten oder die eigene Verantwortung zu benennen, bekämpfen rechte Parteien Geflüchtete, Migrant:innen und alle, die anders sind als sie. Komplexe globale Ungerechtigkeiten werden mit einfachen Feindbildern übertüncht.
Schleichende Aushebelung der Demokratie
Dieser Kurswechsel hat Folgen für die Demokratie. Wenn Menschenrechte nur noch für die „eigenen“ Leute gelten und Schutzsuchende als Störfaktoren oder Sicherheitsrisiko gebrandmarkt werden, erodieren die Werte, auf die sich die EU so gern beruft.
„Wir sind nicht nur Objekte dieser Politik, sondern wir sind auch der Lackmustest für den Zustand der Demokratie.“
Der öffentliche Diskurs kennt kein Erbarmen. Solidarität wird als Schwäche diffamiert. Nationale Egoismen ersetzen europäische Lösungen. Europa verkauft seine (Rest-)Seele, um seine Grenzen zu „schützen“. Europa steht am Scheideweg. Die „Festung Europa“ macht Fortschritte, das Baumaterial, Angst und Ressentiment. Für uns bedeutet das: Wir sind nicht nur Objekte dieser Politik, sondern wir sind auch der Lackmustest für den Zustand der Demokratie. Wenn Europa sich entscheidet, nur noch den rechten Populismus zu bedienen, wird es nicht nur uns verlieren – es wird sich selbst verlieren!3.
- Heins/Wolff: Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft, Suhrkamp, Bd. 2807.
- Securitization
- Eine bi-nationale (Deutsch-koreanisch) Hamburger Familie hat ernsthaft der Tochter den Auftrag gegeben, ein Land zum Auswandern zu identifizieren, für den Tag X. Wohl kein Einzelfall
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