Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, Wissenschaftler, Migration, Flucht
Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun

Meier-Braun im Gespräch

Wir verzeichnen Rückschläge in der Integrationspolitik

70 Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen zieht Migrationsforscher Karl-Heinz Meier-Braun eine ernüchternde Bilanz: Deutschland wurde Einwanderungsland wider Willen – und wiederholt bis heute alte Fehler in Integrationspolitik und Migrationsdebatte. Warum es dennoch für ein „3+“ reicht.

Montag, 15.12.2025, 12:13 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 15.12.2025, 12:14 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

MiGAZIN: Herr Professor Meier-Braun, am 20. Dezember 1955 wurde als erstes Anwerbeabkommen eine Vereinbarung mit Italien abgeschlossen. Das Abkommen ist jetzt 70 Jahre alt. Welche Folgen waren aus Ihrer Sicht langfristig am prägendsten.

Prof. Karl-Heinz Meier-Braun: Durch dieses Abkommen und die folgenden wurde Deutschland zum Einwanderungsland. Alles in allem kamen von 1955 bis zum Anwerbestopp 1973 rund 14 Millionen Frauen und Männer als ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland. 11 Millionen sind wieder abgewandert.

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Wie hat diese Migration Deutschland verändert?

Mit der Zuwanderung wurde das Land weltoffener. Die Begegnung mit anderen Kulturen weckte Neugier, den Wunsch, Länder wie Italien kennenzulernen, zu reisen. Trotzdem schlug auch den „Pioniergastarbeitern“, den Italienern, Ablehnung, ja Rassismus entgegen. „Spaghettifresser“ war lange Zeit ein Schimpfwort. An Lokalen fanden sich Aufschriften wie „Für Italiener verboten!“ Zugewanderte wurden zu Feindbildern. Es verfestigte sich in Teilen der Bevölkerung die „Angst vor den Fremden“, die in Wahlkämpfen noch geschürt wurde. Erst waren es die Italiener, dann Menschen aus der Türkei und anderen Ländern, heute die Geflüchteten, die vielen als Feindbilder dienen.

Was lehrt uns dieser Blick zurück für heutige Integrationspolitik – insbesondere über den behördlichen Umgang mit neu Zugewanderten?

„Ziel der zuständigen Behörden sollte es sein, den Zugewanderten das Leben in Deutschland zu erleichtern und nicht durch bürokratische Hürden zu erschweren.“

Den Zugewanderten, insbesondere auch ihren Kindern, müssen von Anfang an Integrationsmaßnahmen angeboten werden. Sprachkurse spielen dabei eine ganz wichtige Rolle. Ziel der zuständigen Behörden sollte es sein, den Zugewanderten das Leben in Deutschland zu erleichtern und nicht durch bürokratische Hürden zu erschweren. Eine entsprechende Aus- und Fortbildung ist dabei von grundsätzlicher Bedeutung. Die „Welcome Center“ sind heute ein Beispiel für einen besseren Umgang mit Zugewanderten.

Viele Italienerinnen und Italiener blieben dauerhaft, dennoch bestehen „strukturelle Ungleichheiten, etwa im Bildungsbereich“, fort. Welche Stellschrauben wurden seit den 1960ern übersehen – und welche sind bis heute nicht justiert?

„Für die Defizite der italienischen Kinder und Jugendlichen im schulischen Bereich war vor allem auch die damalige ‚Ausländerpolitik‘ verantwortlich.“

Es wurde übersehen, dass sehr viele von ihnen auf Dauer hierbleiben würden. Für die Defizite der italienischen Kinder und Jugendlichen im schulischen Bereich war vor allem auch die damalige „Ausländerpolitik“ verantwortlich. Es fehlten Integrationsmaßnahmen, um die sprachlichen Probleme auszugleichen. Die „Gastarbeiterkinder“ wurden teilweise in nationalen Klassen in der Muttersprache unterrichtet. Dieser Unterricht beispielsweise in Italienisch sollte sogar die „Rückkehrbereitschaft“ stärken und war alles andere als integrationsfördernd. Nach wie vor erreichen die Enkel und Urenkel der italienischen „Gastarbeiter“ und „Gastarbeiterinnen“ schlechtere Schulabschlüsse als die deutsche Altersgruppe, auch wenn Verbesserungen festzustellen sind.

Bei der Partizipation im gesellschaftlichen und politischen Leben besteht weiterhin ein Nachholbedarf. Nur wenige Menschen mit italienischen Wurzeln finden sich in den Parlamenten, aber auch in Führungspositionen wieder.

Wenn Sie das italienische Abkommen mit späteren Anwerbungen (z. B. Türkei ab 1961) vergleichen: Wo lagen die größten Unterschiede in Umsetzung, öffentlicher Wahrnehmung und Integrationschancen – und warum?

„Wenn wir Zugewanderte bei der Integration besser unterstützen, … dann ist Einwanderung geradezu ein Glücksfall.“

Die italienischen Arbeitsmigranten kamen schon sehr früh in den Genuss der Freizügigkeit in Europa, das heißt, sie konnten zwischen Italien und Deutschland hin- und herwandern. Das war bei den anderen Anwerbungen nicht so der Fall. Die italienische Community wurde auch schon wegen des christlichen Glaubens als nicht so fremd empfunden wie die Türkinnen und Türken. Vermeintlich hatten die Italiener also als Europäer die besseren Integrationschancen. Das Abkommen mit Italien wurde von beiden Regierungen damals auch als außenpolitische Maßnahme, zur Förderung der europäischen Integration gesehen. So hatten die italienische Arbeitsmigration auf höchster politischer Ebene in Rom und Bonn „Rückendeckung“.

Seit 2015 sind viele weitere Menschen nach Deutschland gekommen. Viele leben nun seit zehn Jahren hier. Dennoch hat die Politik das erklärte Ziel, viele dieser Menschen wieder in ihre Herkunftsländer zurückzuführen – durch Abschiebung oder freiwilliger Rückkehr. Sie haben vergleichbare Prozesse über Jahrzehnte beobachtet. Was meinen Sie: Wie viele dieser Menschen werden wohl dauerhaft in Deutschland bleiben?

Das ist schwer genau vorauszusagen, aber erfahrungsgemäß bleibt ein hoher Prozentsatz. Aufgrund des Geburtenrückgangs und der Entwicklung Deutschlands zum „Altersheim“ sind wir auf diese Menschen angewiesen. Diese Erkenntnis hat sich inzwischen durchgesetzt. Wenn wir Zugewanderte bei der Integration besser unterstützen, vor allem auch beruflich qualifizieren, dann ist Einwanderung geradezu ein Glücksfall, was die historischen Erfahrungen zeigen.

Wie bewerten Sie die aktuellen Migrationsdebatten – bspw. „Stadtbild“ – im Hinblick auf das zunehmende Erstarken der AfD – und was raten Sie der Politik?

„Die „Stadtbilddebatte“ war eine Steilvorlage für die AfD.“

Die „Stadtbilddebatte“ war eine Steilvorlage für die AfD, die das Thema in Baden-Württemberg zum Thema im Blick auf die nächsten Landtagswahlen am 8. März machen will. Das Vorhaben, mit diesem Thema Wählerinnen und Wähler von der AfD zurückzugewinnen, ist zum Scheitern verurteilt.

Gerade CDU-Politiker sollten einmal die aktuelle Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung lesen, die zeigt, dass konservative Parteien verlieren, wenn sie mit Rechten kooperieren. Das gilt auch, wenn sie ihre Parolen wie jetzt – ob bewusst oder unbewusst, spielt keine Rolle – aufgreifen und meinen, ihnen damit Wasser abgraben zu können.

Sie beobachten Migration und Integrationsprozesse seit Jahrzehnten. Wenn Sie Deutschland aus der Vogelperspektive betrachten, welche Schulnote würden sie seiner Integrationsleistung heute geben – und warum?

„Zurzeit verzeichnen wir in der Integrationspolitik Rückschläge. Die aktuelle Debatte vergiftet die Atmosphäre und wirkt sich gerade auf die Integrierten und Integrationswilligen negativ aus.“

Eine klare „3+“. Vieles hat sich verbessert und die Erkenntnis, wenn auch sehr spät, durchgesetzt, dass wir ein Einwanderungsland sind und von Anfang an Integrationsmaßnahmen erfolgen müssen. Vor allem auch die Eingewanderten selbst haben große Integrationsleistungen vollbracht. Im internationalen Vergleich kann sich Deutschland durchaus sehen lassen, es wird leider bei uns auch diesem Bereich viel schlechtgeredet. Zurzeit verzeichnen wir in der Integrationspolitik Rückschläge. Die aktuelle Debatte vergiftet die Atmosphäre und wirkt sich gerade auf die Integrierten und Integrationswilligen negativ aus. Was nach wie vor fehlt: die Einwanderung vor allem der „Gastarbeiter“ in der Erinnerungskultur zu verankern, ihre Leistungen zu würdigen und wertzuschätzen.

Aus Ihren Erfahrungen als langjähriger SWR-Redakteur: Welche Fehler in der Berichterstattung über Asylsuchende und Geflüchtete wiederholen sich bis heute in Redaktionsstuben?

„Über die Medien entsteht manchmal weiterhin das Bild von der Bedrohung durch Einwanderung.  … Die Realität des ‚Einwanderungslandes Deutschland‘ spiegelt sich in den Redaktionen noch nicht so richtig wider.“

Es fehlen immer noch oft die positiven Beispiele gelungener Integration. Es stehen die Probleme und Schwierigkeiten bei der Einwanderung, die selbstverständlich nicht ausgeklammert werden dürfen, im Brennpunkt. Über die Medien entsteht manchmal weiterhin das Bild von der Bedrohung durch Einwanderung.  Hintergrundinformationen sind nach wie vor rar. Die Realität des „Einwanderungslandes Deutschland“ spiegelt sich in den Redaktionen noch nicht so richtig wider, auch wenn vieles besser geworden ist. Menschen mit Migrationsgeschichte sind keine Ausnahme mehr im redaktionellen Alltag. In Führungspositionen sind sie aber nach wie vor kaum aufgerückt.

Eine neutrale, faktenbasierte Berichterstattung ist gerade in diesen Zeiten besonders wichtig. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten kommt dabei eine besondere Rolle zu.

Vielen Dank für das Gespräch (mig) Interview Leitartikel Politik

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