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Luisa Elleser © Privat, Zeichnung: MiG

Illegalisierung von Menschen

Menschen außerhalb der Fluchtkategorien

Wer vor Krieg flieht, bekommt vielleicht Schutz – wer vor Klimakrise, Ausbeutung und Armut flieht, nicht. Das EU-Asylsystem trennt Geflüchtete von „Wirtschaftsmigranten“ und macht diejenigen rechtlos, die es ausbeutet.

Von Mittwoch, 10.12.2025, 12:58 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 10.12.2025, 12:59 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Die europäische Debatte darüber, wer Schutz verdient, verdeutlicht ein grundlegendes Problem: Armut, Perspektivlosigkeit, Überfischung oder die Folgen des Klimawandels gelten rechtlich nicht als Gründe, fliehen zu müssen. Obwohl diese Faktoren Lebensgrundlagen zerstören, überzeugen sie westliche Regierungen nicht als legitime Gründe Asyl zu erhalten. In den offiziellen Kategorien und politischen Schlagwörtern von „Flüchtling“ und „Wirtschaftsmigrant“ verschwinden die Lebensrealitäten jener Menschen, die von Kategorisierung betroffen sind.

Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 legt bis heute fest, wer als schutzberechtigt gilt. Doch sie entstand in einer Welt, deren Realität vom Zweiten Weltkrieg und dem beginnenden Kalten Krieg geprägt war – nicht von globalisierten Lieferketten, ökologischen Krisen oder der systematischen Übernutzung natürlicher Ressourcen. Mehr als 70 Jahre später sortiert dieses Regelwerk individuelle Notlagen immer noch nach Kriterien, die die zentralen Krisen unserer Zeit kaum erfassen.

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In Europa existiert zwar ergänzend der sogenannte „subsidiäre Schutz“, der greifen soll, wenn die Voraussetzungen für den Flüchtlingsstatus nicht erfüllt sind. Er wird Personen gewährt, denen bei einer Rückkehr „ernsthafter Schaden“ drohen würde und deren Herkunftsstaat keinen ausreichenden Schutz bietet. Doch auch dieses Instrument ist von ausgrenzender Natur und umgreift nicht die heutige Komplexität von Fluchtgründen.

Die Realität der Fluchtursachen unserer Zeit findet weder im einen noch im anderen System angemessenen Raum. Und Menschen, die von solchen Krisen fliehen – ja „fliehen“ -, bleiben in einem rechtlichen Vakuum zurück. Die Genfer Flüchtlingskonvention entstand in einer Welt ohne Klimakrise, ohne industrielle Überfischung, ohne globalisierte Wertschöpfungsketten – und vor allem: in einer Welt, in der es fast ausschließlich um politische Verfolgung ging. Wenn heute steigende Meeresspiegel Lebensräume zerstören, Dürren Ernten vernichten, und neokoloniale Praktiken Existenzgrundlagen aushöhlen, scheint all das rechtlich irrelevant – all das gilt nicht als „Fluchtgrund“.

„Wir essen die Früchte der Ausbeutung, während gleichzeitig Millionen in ‚Anti-Migrations-Deals‘ investiert werden, die angeblich ‚irreguläre Migration‘ stoppen sollen.“

Was wir zudem oft vergessen, ist, dass hinter diesen juristischen Kategorien Menschen stehen, Menschen mit einzigartiger Geschichte, mit Familien, Talenten, Träumen. Wenn europäische Behörden sie in „Flüchtlinge“ und „Migrant:innen“ sortieren, dann degradieren sie nicht nur Menschen in scheinbar neutrale und objektive Kategorien; sie entscheiden auch darüber, wer Rechte bekommt – und wer aus dem Raster fällt. In diesen Kategorien, die eine begrifflichen Klassengesellschaft kreieren, verlieren Menschen plötzlich ihr Gesicht. Wer das Etikett des „Wirtschaftsmigrants“ erhält, gilt nicht als schutzbedürftig, nicht als jemand, der Grundrechte hat und diese einklagen kann.

Wer vor obengenannten Bedingungen flieht, wird oft zum „illegalen Migranten“ erklärt. Ein Etikett, das kriminalisiert. Und wer kriminalisiert ist, verliert Rechte. Genau auf dieser Entrechtung basiert Ausbeutung; von ihr profitieren ausbeuterische, hierarchische Strukturen – Ausbeutung, auf der europäische Politik schon immer zu beruhen schien.

Menschen, die aus dem Raster der Genfer Konvention fallen, landen in Auffangzentren, in Abschiebelagern und provisorischen Unterkünften, die mehr Gefängnissen als Schutzräumen ähneln. Von dort aus führt der Weg für viele in den europäischen Arbeitsmarkt: zu Tomatenfeldern in Süditalien, auf Plantagen in Andalusien, in Schlachtbetriebe in Deutschland – dort, wo Arbeitsbedingungen mehr moderner Sklaverei gleichen, als auf den scheinbaren Grundwerten Europas.

Die italienische „Agromafia“ etwa, ein engmaschiges System, aus kriminellen Netzwerken, Landbesitzern und Subunternehmern, kontrolliert große Teile der Landwirtschaft im Süden des Landes. Von Menschen ohne Papiere profitiert es: Sie können sich auf keine Arbeitsrechte berufen – denn sie haben keine. Für etwa zwei Euro pro Stunde ackern sie in glühender Hitze, leben in Baracken ohne Wasser und sind abhängig von genau jenen, die sie ausbeuten. Es ist ein Kreislauf, der nur funktioniert, weil diese Menschen als „nicht schutzwürdig“ gelten – und damit außerhalb des Rechts stehen.

„Solange wir diese Menschen in Kategorien pressen, die ihnen nicht gerecht werden, schaffen wir nicht Ordnung, sondern Unrecht.“

Das Absurde daran: Wir alle profitieren davon. Die Tomaten auf unserer Pizza, das Olivenöl aus Spanien, die Zitrusfrüchte im Winter – sie alle sind Produkte eines Systems, das auf der Verletzlichkeit der Menschen basiert, die es ernährt. Jede Konsumentscheidung ist Teil dieses Kreislaufs. Wir essen die Früchte der Ausbeutung, während gleichzeitig Millionen in „Anti-Migrations-Deals“ investiert werden, die angeblich „irreguläre Migration stoppen“ sollen. Also genau jene Migration, die dieses System überhaupt erst produziert.

Die Debatte über Migration wird in Europa gern als moralische Frage geführt: Wer verdient Schutz? Wer nicht? Doch vielleicht ist die eigentliche Frage eine andere: Wie lange kann ein Kontinent, der von Ausbeutung lebt, so tun, als würde er sie nur verwalten?

Wenn wir „Migrant“ sagen oder „Flüchtling“, meinen wir immer Menschen. Menschen, die von Geburt aus Würde tragen und Rechte besitzen- einfach nur, weil sie Mensch sind. Und solange wir diese Menschen in Kategorien pressen, die ihnen nicht gerecht werden, schaffen wir nicht Ordnung, sondern Unrecht. Dieser Widerspruch ist der Kern der europäischen Migrationspolitik: Ein System, das sich humanitär nennt, aber jene Menschen, die am stärksten unter globalen Ungleichheiten leiden, gezielt von Schutz ausschließt – und gleichzeitig von ihrer Arbeit profitiert. Meinung

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