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UNHCR in Genv © *_* @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

75 Jahre UNHCR

Flüchtlingshilfswerk in der schwersten Krise seiner Geschichte

Zum 75. Geburtstag steckt das UN-Flüchtlingshilfswerk in einer tiefen Finanzkrise. Während weltweit so viele Menschen geflüchtet sind wie nie, streichen große Geberstaaten ihre Mittel – mit Folgen, die schon bald erneut Europa erreichen könnten.

Von Dienstag, 09.12.2025, 12:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 09.12.2025, 12:00 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

75 Jahre – das ist eigentlich immer ein Grund zum Feiern, aber der scheidende Chef des UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), Filippo Grandi, ist alles andere als in Jubellaune. Die Organisation ist 75 Jahre nach ihrer Gründung am 14. Dezember 1950 in einer existenziellen Finanzkrise.

Zudem hat sich der Umgang mit Flüchtlingen seit 2015 stark verändert, von der Willkommenskultur, als Notleidende etwa in Deutschland an Bahnhöfen begrüßt wurden, vielerorts in blanke Ablehnung und Grenzabschottungen. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Vertriebenen auf mindestens 122 Millionen Menschen weltweit praktisch verdoppelt, unter anderem durch Kriege und Gewalt in Syrien, Afghanistan, im Sudan und der Ukraine.

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Wer Grandi am 1. Januar im Amt folgt, muss um das Überleben des UNHCR kämpfen. „Ich bin sehr besorgt über den Rückgang der Solidarität, vor allem auch in Deutschland, das bislang einen Ruf als großen Partner ärmerer Länder hatte“, sagt er der Deutschen Presse-Agentur.

Wieso Finanzkrise?

Die USA, die jahrelang rund 40 Prozent des UNHCR-Budgets gestemmt haben, haben ihre Gelder drastisch gekürzt. Ebenso haben andere großzügige Geber wie Deutschland und Großbritannien den Gürtel enger geschnallt. Der Beitrag der USA liegt mittlerweile bei nur noch gut 40 Prozent von dem, den sie 2024 zahlten. Deutschland hat in ähnlichem Rahmen gekürzt.

Das UNHCR rechnet damit, dass dieses Jahr nur 3,9 Milliarden Dollar (knapp 3,4 Mrd Euro) zusammenkommen, ein Viertel weniger als 2024. Die Summe deckt nicht einmal die Hälfte des vom UNHCR kalkulierten Bedarfs. Einem Drittel der rund 36 Millionen Menschen, die es bislang unterstützte, kann nicht mehr geholfen werden. Das UNHCR hat bereits ein Viertel der Mitarbeiter, mehr als 5.000 Leute, entlassen.

Warum wurde das UNHCR gegründet?

Es entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, um Vertriebenen vor allem in Europa zur Rückkehr in die Heimat zu helfen. Es sollte eigentlich nur drei Jahre existieren. Dann kam es immer wieder zu neuen Flüchtlingskrisen: nach dem Sieg der Kommunisten in Vietnam, nach dem Einmarsch der Russen in Afghanistan, durch Kriege und Konflikte in Afrika, die Balkankriege, den Sieg der Taliban in Afghanistan, den syrischen Bürgerkrieg, den russischen Angriff auf die Ukraine und zuletzt die Kämpfe im Sudan.

Parallel zum UNHCR beschloss die Weltgemeinschaft, dass Verfolgte besser geschützt werden müssen. „Die Genfer Flüchtlingskonvention und das UNHCR entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Erkenntnis heraus, dass, wenn Solidarität verschwindet, Brutalität, Gewalt und Egoismus an ihre Stelle treten“, sagt Grandi.

Nach der Konvention von 1951 haben Verfolgte das Recht, von anderen Ländern aufgenommen zu werden. Jedes Land muss Asyl gewähren. Armut, Hunger oder Naturkatastrophen sind keine anerkannten Fluchtgründe. Nur Verfolgte gelten als Flüchtlinge, alle anderen sind Migranten, die keinen besonderen Schutz genießen.

Ist die Flüchtlingskonvention überholt?

Die USA haben im September in New York am Rande der UN-Generalversammlung gefordert, das Asylwesen zu reformieren, damit niemand das Asylrecht missbraucht, um Einwanderungshürden zu umgehen, wie es vom Außenministerium hieß. Für Grandi wäre eine solche Reform brandgefährlich. Die Konvention enthalte europäische Grundwerte, die bis heute gültig seien. „Fasst die Prinzipien nicht an, denn wir würden sie nie wieder zurückbekommen“, sagt er.

Warum soll eine Regierung einem Flüchtlingshilfswerk mehr Geld geben, wenn viele Wähler genug haben vom Thema Flüchtlinge und Migration?

Weil das UNHCR Menschen in Not unweit ihrer Heimat hilft. 71 Prozent der Vertriebenen weltweit lebt in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen nahe ihrer Heimat. „Das kann auch einen Beitrag dazu leisten, dass sie nicht den Weg nach Europa suchen“, sagt Thorsten Klose-Zuber, Generalsekretär von Help – Hilfe zur Selbsthilfe e.V. Er war vor Kurzem in Syrien, wo die Organisation Rückkehrer unterstützt, damit sie zu Hause wieder Fuß fassen.

Die Programme seiner Organisation werden teils mit Geldern des UNHCR und von anderen Hilfsorganisationen finanziert, deshalb ist sie von den Kürzungen auch stark betroffen. Sie musste im Südsudan schon Hilfe für unterernährte Kinder einstellen und für 2026 mit einem deutlich niedrigeren Budget kalkulieren. „Es ist ein Trugschluss zu denken, wenn weniger Hilfe geboten wird, kommen auch weniger Flüchtlinge – genau das Gegenteil dürfte der Fall sein“, sagt Klose-Zuber.

Fördert man nicht Vertreibung und Flucht, wenn an den Grenzen von Konfliktgebieten gleich UNHCR-Flüchtlingslager gebaut werden?

Keinesfalls, sagte Klose-Zuber. „Niemand verlässt seine Heimat gern und geht in ein Flüchtlingslager des UNHCR, weil er dort paradiesische Zustände erwartet – das ist auch völlig realitätsfremd. Flucht ist immer das allerletzte Mittel.“

Was könnten die Mittelkürzungen in Europa für Folgen haben?

Für Grandi ist klar: „Wenn humanitäre Hilfe zurückgeht, werden wieder Menschen Richtung Europa drängen.“ Er erinnert an 2015, als Geld fehlte und Hilfen für syrische Flüchtlinge im Nahen Osten gekürzt werden mussten. Unter anderem deswegen seien in dem Jahr Millionen Syrer aus Verzweiflung Richtung Europa gezogen.

Zehntausende UN-Mitarbeiter – kann da nicht erst mal kräftig am Personal gespart werden?

Absolut, das sagt auch Grandi. Im ganzen UN-System wird gerade nach Doppelarbeit und Effizienzverbesserungen gesucht. „Aber den finanziellen Einbruch kann man auch durch noch so viele Effizienzsteigerungen nicht wettmachen“, sagt Klose-Zuber.

Was droht, wenn der Solidaritätskonsens von 1950 schwindet?

Klose-Zuber sagt: „Damals gab es einen Konsens, dass wir ein System aufbauen mit Flüchtlingskonvention und UNHCR, damit wir die Schrecken der Weltkriege für immer hinter uns lassen. Wenn wir das abschaffen, und wieder jeder nur auf sich schaut, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir wieder in eine Katastrophe rutschen.“ (dpa/mig) Aktuell Panorama

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