
Studie zeigt
Globaler Süden im deutschen Visasystem „extrem“ benachteiligt
Je ärmer das Herkunftsland, desto länger müssen Antragsteller auf einen Visa-Termin an deutschen Auslandsvertretungen warten – oder sie bekommen gar keinen. Eine neue Studie macht sichtbar, wie stark wirtschaftliche Ungleichheit die Chance auf Einreise prägt.
Dienstag, 18.11.2025, 19:43 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 18.11.2025, 19:43 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Menschen aus ärmeren Ländern müssen deutlich länger auf einen Termin in deutschen Auslandsvertretungen warten – und haben oft kaum eine Chance, überhaupt einen zu bekommen. Das zeigt eine neue Auswertung von mehr als 16.000 Terminabfragen, die globale Unterschiede im deutschen Visasystem sichtbar macht.
Durchgeführt wurde die Analyse von Forscher:innen des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), der Europa-Universität Flensburg und des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz. Im Mittelpunkt der Untersuchung stand die Frage, wie gerecht die Chancen auf einen Termin im weltweiten Vergleich verteilt sind – und welche Rolle strukturelle Faktoren spielen.
Die Ergebnisse zeichnen ein klares Bild: Je ärmer ein Land, desto schlechter sind die Aussichten auf einen Visatermin. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt steht laut Studie in einem „deutlichen Zusammenhang“ mit Terminchancen und Wartezeiten: Eine geringere Wirtschaftskraft bedeutet im Durchschnitt geringere Chancen, überhaupt einen Termin zu bekommen, und längeres Warten auf den Termin.
Lange Wartezeiten in Afrika, kurze in Singapur und Kuba
Die längsten durchschnittlichen Wartezeiten fanden die Forscher:innen in afrikanischen Ländern. Vertretungen in Ouagadougou (Burkina Faso), Antananarivo (Madagaskar) und Kinshasa (DR Kongo) wiesen im Schnitt besonders lange Wartezeiten bis zum nächsten buchbaren Termin auf. Nach Ländern lagen Burkina Faso mit durchschnittlich 75,7 Tagen und Madagaskar mit 71,3 Tagen an der Spitze. Auffällig war auch Zypern mit 60,7 Tagen. Dies könnte, so die Analyse, im Zusammenhang mit Anträgen von Drittstaatsangehörigen stehen, da Zypern an einer hochfrequentierten Flüchtlingsroute im Mittelmeer liegt. In 17 Ländern betrugen die Wartezeiten mehr als einen Monat. Lange Wartezeiten gingen dabei im Schnitt mit geringeren Terminchancen einher.
Ganz anders das Bild in anderen Regionen: In Singapur lag die durchschnittliche Wartezeit auf einen Termin bei zwei Tagen, in Kuba bei 2,7 Tagen. Insgesamt waren die Wartezeiten in Europa, Lateinamerika, der Karibik und Ozeanien deutlich kürzer als in vielen Ländern Afrikas.
Auch wirtschaftliche Beziehungen entscheiden über Visavergabe
Eine Rolle spielen laut Studie auch wirtschaftliche Beziehungen und Sprache. Länder, die enge Handelsbeziehungen zu Deutschland pflegen, verzeichnen kürzere Wartezeiten. Zudem gilt: Je mehr Menschen eines Landes sich mit der deutschen Bevölkerung verständigen können, desto größer ist die Chance, in den dortigen Auslandsvertretungen einen freien Visatermin zu finden.
Die Forscher:innen sehen in den Mustern Hinweise auf eine ungleiche Verteilung von Ressourcen und politischen Prioritäten. Offizielle Daten zur Personalstärke oder zu Budgets einzelner Auslandsvertretungen lagen ihnen jedoch ebenso wenig vor wie Zahlen zu den tatsächlichen Terminanfragen.
Forscher kritisieren „extrem ungleiche Chancen“
Prof. Dr. Emanuel Deutschmann, Autor der Studie und Juniorprofessor für Soziologische Theorie an der Europa-Universität Flensburg, warnt vor den Folgen: „Die extrem ungleichen Chancen auf einen zeitnahen Visatermin sind ungerecht, führen zu Frust und werden von den Betroffenen zu Recht als diskriminierend empfunden.“
Auch wenn unklar bleibe, ob längere Wartezeiten im Globalen Süden eine Nebenfolge von Unterbesetzung und Überforderung oder das Ergebnis einer gezielten Abschreckungs- und Ausgrenzungspolitik sind, die Folgen seien eindeutig: „Deutschlands Reputation als Einwanderungsland und Tourismusdestination leidet, dringend benötigte Fachkräfte werden abgeschreckt, Austausch und Kooperation eingeschränkt und globale Ungleichheiten letztlich reproduziert und verstärkt.“
Studienautor fordert Transparenz
Dr. Niklas Harder, Co-Autor der Studie und Co-Leiter der Abteilung Integration am DeZIM, fordert Chancengleichheit und mehr Transparenz für eine gute Migrationspolitik – „egal aus welchem Land“. Er schlägt eine öffentlich zugängliche Plattform mit aktuellen Wartezeiten vor als Teil des Auslandsportals des Auswärtigen Amtes. „Transparenz ist auch die Grundlage dafür, die Frage zu diskutieren, wie die unterschiedlichen Wartezeiten entstehen“, so Harder.
Für die Studie wurden Angaben zufolge 16.182 computergestützte Terminabfragen bei 130 deutschen Botschaften und Konsulaten in 109 Ländern ausgewertet. Die Abfragen fanden zwischen November 2023 und September 2024 statt. Alle sechs Tage wurde erfasst, ob Termine verfügbar waren und wie lange auf den nächstmöglichen Termin gewartet werden müsste. (mig) Leitartikel Panorama
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