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Edgar Pocius © prviat, Zeichnung: MiGAZIN

Dönerbuden & Gemüseläden

Wer nicht ins Stadtbild passt

Merz sorgt sich ums „Stadtbild“ – dabei ist nicht die Dönerbude das Problem, sondern ein Land, in dem Aufstiegschancen so eng sind, dass Menschen sich lieber selbstständig machen, als auf Anerkennung zu warten.

Von Sonntag, 02.11.2025, 10:32 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 02.11.2025, 10:29 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Friedrich Merz hat die Debatte über das „Stadtbild“ entfacht. Viele fragten sich, was er damit eigentlich meint. Meint er, dass unsere Gesellschaft bunter geworden ist? Oder dass es zu viele Menschen gibt, die keinen Anschluss an die bürgerliche Gesellschaft gefunden haben und sich auf Straßen und Bahnhöfen herumtreiben – oft mit fragwürdigen Aktivitäten? Und dann sind da noch die Dönerbuden und Friseursalons, die angeblich „nicht zum Stadtbild passen“.

Es folgten Proteste gegen die Aussagen von Merz – völlig verständlich. Auffällig war jedoch, dass vor allem die etablierte bürgerliche Mitte protestierte, nicht die eigentlich Betroffenen. Im Internet kursierten Memes und satirische Beiträge über „deutsche Karens“, die genau das Stadtbild darstellen, das Merz sich offenbar wünscht. Die Absicht war gut, doch die betroffenen Gruppen fühlten sich von diesen Protesten kaum angesprochen. So blieb die Frage offen: Wer sind eigentlich diejenigen, die angeblich nicht zum Stadtbild passen?

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Wenn Merz damit einfach Menschen mit Migrationshintergrund meint, die nicht „typisch mitteleuropäisch“ aussehen, ist seine Aussage populistisch – eine Nachahmung der tribalistischen Rhetorik der AfD – und dient vor allem dazu, ein rechtskonservatives Publikum zu bedienen. Wenn er jedoch auf die wachsende Zahl von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund anspielt, die sich außerhalb der bürgerlichen Mitte bewegen, wäre die Kritik an diesem Zustand durchaus berechtigt. Dieses Problem existiert in Deutschland tatsächlich – aber die pauschale Verunglimpfung solcher Menschen stärkt letztlich nur die Popularität des konservativen Lagers.

„Die Gründe, warum viele keinen Platz in der bürgerlichen Mitte finden, sind dieselben, aus denen es so viele Dönerbuden, Friseursalons und Gemüseläden in Deutschland gibt.“

Die Gründe, warum viele keinen Platz in der bürgerlichen Mitte finden, sind dieselben, aus denen es so viele Dönerbuden, Friseursalons und Gemüseläden in Deutschland gibt. Jeder Mensch strebt nach einem besseren Leben für sich und seine Familie. Wer auf dem Arbeitsmarkt nur Stellen im Niedriglohnsektor findet, sucht nach Wegen, seine Situation zu verbessern. Und seien wir ehrlich: Der Niedriglohnsektor ist oft geprägt von körperlich und psychisch extrem belastenden Jobs. Nicht jeder schafft den zweiten Bildungsweg oder kann ein Studium abschließen – und auch mit Qualifikationen bleibt Diskriminierung ein aktuelles Problem.

Nicht jeder kann Arzt oder Ingenieur werden. Deshalb sind Familienbetriebe für viele ein mutiger, oft aus dem Herkunftsland vertrauter Weg, der Misere zu entkommen. Sie bringen vielleicht keinen Reichtum, aber sie schaffen Stabilität, Sinn und wirtschaftliche Teilhabe. Dass viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland den Schritt in die Selbstständigkeit wagen, liegt daran, dass sie bereit sind, Risiken einzugehen – häufig aus Perspektivlosigkeit, weil der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt versperrt bleibt. Deshalb gibt es in Deutschland so viele Dönerläden – und nicht so viele Schnitzelbänke.

„Das ‚Unerwünschte‘ aus der Öffentlichkeit zu verbannen, ist eine alte politische Strategie.“

Wenn man Probleme nicht lösen kann oder will, ist der einfachste Weg, sie aus dem Stadtbild zu entfernen. Das „Unerwünschte“ aus der Öffentlichkeit zu verbannen, ist eine alte politische Strategie – sie dient dazu, ein idealisiertes Bild zu erschaffen, anstatt sich den realen Problemen zu stellen. Schon in der Sowjetunion wurden Obdachlose aus den Städten vertrieben oder zur Zwangsarbeit gezwungen. Auch Präsident Trump versuchte, das Stadtbild in den Vereinigten Staaten zu „säubern“. Bereits im Wahlkampf hetzte er gegen Migranten, bezeichnete sie als Gefahr für das gesellschaftliche Gefüge und schürte in der verunsicherten Mittelschicht Ängste vor „Unordnung“ und „Verfall“. Unter seiner Administration wurden Obdachlosenlager geräumt und Fördermittel für Städte gekürzt, die keine strikte Ordnungspolitik betrieben – ein klassisches Beispiel symbolischer Politik, die das Problem unsichtbar machen will, statt es zu lösen.

In einer Gesellschaft freier Individuen gibt es keine universelle Rettung – und nicht jeder Mensch kann oder will Teil der bürgerlichen Mitte werden. Das bedeutet auch, dass eine völlig saubere, perfekte Welt niemals existieren wird. Sauberkeit und Ordnung sind zweifellos wünschenswert, sie schaffen Bequemlichkeit und Geborgenheit – aber sie dürfen nicht, wie so oft, zur Obsession werden. Eine Gesellschaft, die versucht, alles „Unerwünschte“ wegzuputzen, riskiert, auch Menschen aus ihrer sichtbaren Welt zu verdrängen.

„Wir brauchen ehrlichere Migrationsdebatten, in denen verschiedene Perspektiven gehört werden.“

Es bleibt also die Frage: Welche politischen Maßnahmen und gesellschaftlichen Veränderungen sind nötig, um Außenseiter wirklich in die bürgerliche Welt einzubinden? Wir brauchen ehrlichere Migrationsdebatten, in denen verschiedene Perspektiven gehört werden – damit weder Ressentiments unter Einheimischen noch Konflikte zwischen Migrantengruppen weiterwachsen. Denn auch innerhalb migrantischer Communities entstehen Spannungen, wenn einige sich als „Flüchtlinge zweiter Klasse“ behandelt fühlen.

Zudem fehlt in Deutschland eine klare Diskussion über Leitkultur und Zugehörigkeit. Oft heißt es, Deutschland sei ein junger Staat – erst 1871 gegründet – und bestehe aus vielen regionalen Identitäten. Doch wer dazugehören will, merkt schnell, dass Zugehörigkeit keine Selbstverständlichkeit ist. Beispiele aus dem Sport, wie Dennis Schröder oder Mesut Özil, zeigen, dass man trotz Leistung und Erfolg oft nicht vollständig akzeptiert wird.

Die Gründe, warum solche Sportler sich ausgeschlossen oder unzureichend anerkannt fühlen, liegen in einem subtilen Tribalismus, der tief in der deutschen Gesellschaft verankert ist – dem Gefühl, dass „die“ anders aussehen, anders sprechen, „nicht ganz dazugehören“. Das erinnert an dieselbe Logik, die sich in Merz’ Stadtbild-Debatte oder in der AfD-Rhetorik zeigt: Wer nicht dem imaginären „Wir“ entspricht, passt nicht ins Bild.

„Deutschland, einst bewundert für Effizienz und Stabilität, ist heute oft ein Meme unter Industrienationen.“

Eine Gesellschaft, die kein gemeinsames Narrativ von Zugehörigkeit hat, neigt dazu, Ausgrenzung als Normalität zu akzeptieren. Während die USA ihren Gründungsmythos „vom Tellerwäscher zum Millionär“ pflegen, fehlt Deutschland eine solche verbindende Erzählung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es das „Wirtschaftswunder“, das als kollektiver Mythos diente: Wer hart und ehrlich arbeitet, schafft Wohlstand für sich und seine Familie. Doch dieses Versprechen ist längst gebrochen. Die Infrastruktur verfällt, die Bürokratie lähmt Innovation, die Bahn und das Internet sind Symbole für Stillstand geworden. Deutschland, einst bewundert für Effizienz und Stabilität, ist heute oft ein Meme unter Industrienationen.

Schlechte Infrastruktur und überforderte Verwaltung bedeuten nicht nur weniger Investitionen, sondern auch weniger Chancen, in das bürgerliche Leben aufzusteigen. Und genau dort liegt das eigentliche Problem – nicht im „Stadtbild“, sondern in der schwindenden sozialen Mobilität. (mig) Meinung

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