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Mann sitzt auf dem Boden (Symbolfoto) © de.depositphotos.com

Verzweifelte Bilanz

Eineinhalb Suizidversuche pro Monat in Hessens Flüchtlingslagern

Drohende Abschiebung, ungewisse Zukunft, traumatische Erfahrungen: In Hessens Flüchtlingsunterkünften kommt es immer wieder zu Selbstverletzungen und Suizidversuchen. 36 Fälle in zwei Jahren zeigen die dramatische psychische Belastung.

Dienstag, 30.09.2025, 15:50 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 30.09.2025, 15:58 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Wenn über Flüchtlingsunterkünfte geredet wird, geht es meist darum, wo sie entstehen, ob die Gemeinde einverstanden ist oder welche Kosten damit verbunden sind. Um die Menschen darin geht es jedoch selten. Dabei spielen sich in den Einrichtungen täglich Dramen ab – Leid und Schicksale von unvorstellbarem Ausmaß, die im öffentlichen Diskurs kaum vorkommen. Das zeigen neues Zahlen aus Hessen.

Dort hat es laut Innenministerium in den vergangenen zwei Jahren zwar keine Suizide, aber zahlreiche Selbstverletzungen und Suizidversuche gegeben. Insgesamt 36 solche Fälle seien bekanntgeworden, teilte Innenminister Roman Poseck (CDU) auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Landtagsfraktion mit. „Bei der Dokumentation wird nicht zwischen Selbstverletzungen und Suizidversuchen unterschieden“, ergänzte er.

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Während Abschiebe- und Überstellungsversuchen von abgelehnten Asylbewerbern in Hessen seien 2023 und 2024 zwei Suizidversuche und eine Selbstverletzung registriert worden. In der Abschiebehafteinrichtung in Darmstadt-Eberstadt kam es währenddessen laut Poseck zu einem Suizidversuch und neun Selbstverletzungen.

Grüne: Drohende Abschiebung verstärkt oft psychische Belastung

Die Grünen-Fraktion hatte in ihrer Anfrage von oft traumatischen Heimat- und Fluchterfahrungen der Asylbewerber in Hessen gesprochen. „Die psychische Belastung dieser Erlebnisse wird durch Unterbringung in Sammelunterkünften, ungewisse Bleibeperspektiven und drohende Abschiebungen häufig noch verstärkt“, ergänzten die Grünen. Daher könne es zu psychischen Erkrankungen mit schlimmstenfalls Selbstverletzungen oder Suiziden kommen.

Das zuständige Regierungspräsidium Gießen teilte der Deutschen Presse-Agentur zu den acht Standorten der Erstaufnahmeeinrichtung in Hessen mit, Psychosoziale Zentren (PSZ) koordinierten die Betreuung traumatisierter Flüchtlinge. Die Einrichtungen leisteten individuelle akute Krisenhilfe und unterstützen die Geflohenen bei der Gewinnung einer inneren Stabilität. Gruppenangebote für sie umfassten etwa „ein psychoanalytisch orientiertes Malangebot speziell für Kinder sowie Wander-, Koch- und Sportgruppen für Männer und Frauen“.

Die niedrigschwelligen Angebote ermöglichen es laut dem Regierungspräsidium den Asylbewerbern mit Erfahrungen von Krieg, Verlust und Flucht, „für kurze Zeit Sorgen und Ängste loszulassen. Gleichzeitig bilden sie den Auftakt für einen längeren Weg hin zu mehr psychosozialem Wohlbefinden.“

Psychische Betreuung unterfinanziert und lückenhaft

In der Praxis zeigt sich ein anderes Bild. Die psychische Betreuung Geflüchteter gilt bundesweit als deutlich unterfinanziert und lückenhaft. Fachleute schätzen, dass rund 30 Prozent der Geflüchteten eine Behandlung bräuchten – bei etwa 3 Millionen Menschen wären das über 900.000. Doch die PSZ erreichten 2023 nur rund 31.200 Personen (ca. 3,3 Prozent).

In Hessen fördert das Land erste Anlaufstellen mit niedrigschwelligen Angeboten. Der Zugang bleibt jedoch schwer: In den ersten 36 Monaten gilt das Asylbewerberleistungsgesetz, reguläre Therapien sind dann meist nur in „akuten“ Fällen möglich; Dolmetscherkosten werden häufig nicht verlässlich übernommen, was Behandlungen zusätzlich erschwert. Zwar hat das Bundessozialgericht 2024 klargestellt, dass auch psychische Erkrankungen als „akut“ gelten können – in der Praxis wird das bisher nur zögerlich umgesetzt. (dpa/mig) Leitartikel Panorama

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