
Naturgefahren zur Migrationsabwehr
Von Alligator Alcatraz bis zu Desert Dumps
In den letzten Jahren suchen Migrationspolitiken und Grenzbehörden eine neue Verbündete: die Natur. Um Migrierende fernzuhalten, werden Landschaften gefährlich zugerichtet – und die Natur für Grenzarbeit in Dienst genommen.
Von Marc Hertel Dienstag, 02.09.2025, 12:50 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 02.09.2025, 12:44 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Stürmische Wellen auf Meeren und erdrückende Hitze in Wüsten sind seit langem Teil des Weges von irregularisierten Migrierenden in Richtung der reichen Länder des Globalen Nordens. In den letzten Jahren jedoch gestalten Migrationspolitiken zunehmend durch eigenes Zutun gefährliche Landschaften: im neuen Abschiebegefängnis „Alligator Alcatraz“, beim Abladen von afrikanischen Migrierenden inmitten der Sahara oder beim Festsetzen von Asylsuchenden auf Inseln des Evros-Flusses. Derartige Landschaften sind nicht per se gefährlich für Migrierende, sondern werden erst – wie es Glenda Garelli und Martina Tazzioli fassen – durch „Terrain-Politiken“ gefährlich gemacht.
Abschiebelager inmitten des Alligatoren-Habitats
„Alligator Alcatraz“ ist die von Floridas Justizminister James Uthmeier geprägte und von der Trump-Administration übernommene Bezeichnung für ein neues Internierungslager in den Everglades. Es wurde im Juni 2025 binnen 8 Tagen auf einem Trainingsflughafen inmitten des Sumpflandes erbaut und sollte bis zu 3.000 Migrierende in Abschiebehaft festhalten. Die meisten Internierten wiesen kein kriminelles Register auf und waren in engen Käfigen oder dünnen Zelten während des heißen Sommers untergebracht.
Jüngst gab eine Bundesrichterin Klagen von Umweltverbänden, zusammen mit einer indigenen Community, statt. Räumung und Rückbau des Lagers müssen nun bis zum Spätjahr erfolgen. Interessanterweise waren Umwelt-Bedenken angesichts des sensiblen Everglades-Ökosystems – und nicht etwa die infrahumanen Haftbedingungen – ausschlaggebend.
„Wenn Leute ausbrechen, dann erwartet sie nichts anderes als Alligatoren und Phytons.“
Der Name „Alligator Alcatraz“ spielt sowohl auf das ehemalige Hochsicherheitsgefängnis vor der Küste San Franciscos als auch auf die tierische Bewohnerschaft der Everglades an. Bei der Planung des Abschiebelager wurden raue Natur und rücksichtslose Wildtiere aktiv als Elemente der Architektur einbezogen, wie Uthmeier zu Projektbeginn verdeutlichte: „Das 30 Quadratkilometer große Gebiet bietet eine effiziente, kostengünstige Möglichkeit zum Bau des Haftlagers, weil man nicht viel in die Umzäunung investieren muss. Wenn Leute ausbrechen, dann erwartet sie nichts anderes als Alligatoren und Phytons. Sie können nirgendwo hingehen, sie können sich nirgends verstecken.“ Die Architektur des „Alligator Alcatraz“ beruht also gezielt darauf, Migrierende mit Hilfe der Natur und Tierwelt zu isolieren und gleichzeitig Ausbrüche zu vermeiden oder zu bestrafen – angesichts der drohenden Allgegenwärtigkeit eines offenen Krokodilmauls.
Festgesetzte Migrierende auf Sandbänken
An der 500 Kilometer langen Grenze zwischen der Türkei und Griechenland ist wiederum Wasser ein wichtiger Teil der Grenze. Der Fluss Evros trennt die beiden Staaten und entspricht hier der Außengrenze der EU. Migrierende, die nach Europa wollen, überqueren den Fluss zumeist in der Nacht, nachdem sie von kleinen türkischen Dörfern das Ufer wandernd erreicht haben. Auf der griechischen Seite wurde im Jahr 2011 ein erster, elf Kilometer langer Abschnitt mit einem hohen Metallzaun mit Stacheldraht gesichert. Er wurde ab 2020 am Fluss entlang erweitert.
Bei der Überquerung des Evros stranden Migrierende häufig durchnässt auf Sandbänken im Fluss oder vor dem Zaun auf der griechischen Uferseite, besonders im Winter bei erhöhtem Wasserspiegel und Überflutung der angrenzenden Felder. Ein Arzt im regionalen Krankenhaus von Alexandroupolis wird wie folgt zitiert: „Sie überqueren den Fluss und sind völlig durchnässt. Niemand ist da, um ihnen zu helfen, also erfrieren sie. Ihre Leichen werden manchmal 20 Tage später von der Polizei gefunden und ins Krankenhaus gebracht.“ Zwischen 1995 und 2024 wurden mehr als 400 tote Migrierende im Evros-Gebiet gezählt.
„Sie überqueren den Fluss und sind völlig durchnässt. Niemand ist da, um ihnen zu helfen, also erfrieren sie.“
Besonders die erhöhte Fließgeschwindigkeit im Winter macht den Fluss für Migrierende gefährlich. Der Evros schafft zu dieser Zeit zudem kleine Inseln auf Basis angespülter Sedimente. Ohne angemessene Kleidung, ausreichend Trinkwasser und Essen stranden Migrierende häufig auf diesen Inseln im Zuge der Überquerung, wie eine neue Studie von Peter Teunissen zeigt. Außerdem setzen Grenz- und Polizeibeamten Migrierende gezielt auf den Inseln aus, etwa in Form illegaler Pushbacks von griechischer Seite.
Obwohl die Behörden die Inseln über Kameras überwachen können, unterlassen sie Hilfeleistungen, oft mit Verweis auf die Verantwortung des anderen Staates. So musste im Sommer 2022 eine Gruppe Migrierender vier Wochen lang auf unterschiedlichen Inseln ausharren – vier Personen starben. Das Fluss-Ökosystem mit seinen kleinen Inseln wird also aktiv zur Migrationsabwehr in Dienst genommen: Nur mit den natürlichen Inseln vor dem technischen Zaun kann Griechenland Migrierende ‚effektiv‘ vom Betreten seines Territoriums abhalten.
Deportierungen in die Wüste
Sahara-Staaten Nordafrikas führen seit geraumer Zeit mit EU-Mitteln Desert Dumps durch, bei denen Migrierende mit Bussen in der Wüste abgeladen werden. Am Anfang der Desert Dumps steht ein beispielhaftes Racial Profiling: In von Migrierenden geprägten Wohnvierteln großer Städte (z.B. Casablanca, Rabat oder Nouakchott) oder an der Küste vor einer anvisierten Bootsüberfahrt führen Polizisten Razzien durch und nehmen systematisch Schwarze Migrierende fest. Sie werden in Kleinbussen zu örtlichen Polizeistationen gebracht und von dort mit großen Reisebussen über 200 Kilometer weit in die Wüste abtransportiert. Nachdem ihnen zuvor – häufig unter Schlägen – Handy und Geld abgenommen wurde, werden sie in abgelegenen Orten ausgesetzt. Migrierende in einer spanischen Aufnahmeeinrichtung berichteten mir, wie sie ohne GPS stundenlang den Weg in das nächste Dorf suchten und auf Wasserspenden von vorbeifahrenden LKW-Fahrern angewiesen waren.
Das Vorgehen der nationalen Polizeien wird finanziell durch EU-Gelder (z.B. aus dem Treuhandfonds für Afrika) oder bilaterale Abkommen ermöglicht: Zwischen Januar und April 2025 wurden allein in Mauretanien 30.000 Migrierende an der Grenze zu Nachbarstaaten ‚abgeladen‘, nachdem das Land 2024 von der EU 210 Millionen Euro für die Bekämpfung von Schlepper-Netzwerken und verstärkte Migrationskontrolle zugesagt bekommen hat.
„Man muss Migranten das Leben schwer machen. Wenn du einen Migranten aus Guinea zweimal in der Sahara [in Marokko] zurücklässt, wird er dich beim dritten Mal bitten, ihn freiwillig nach Hause zu bringen.“
Lighthouse Reports, zusammen mit Redaktionen wie El País, Le Monde oder Der Spiegel, hat die Rolle von europäischen Geldern und Ausrüstung hinter den Desert Dumps akribisch aufgedeckt. Ab März 2023 wurden etwa in Tunesien festgenommene Migrierende mit aus Italien und Deutschland gespendeten Navan Nissan deportiert. Ein in die EU-Projekte involvierter Berater erklärt unverblümt: „Man muss Migranten das Leben schwer machen. Wenn du einen Migranten aus Guinea zweimal in der Sahara [in Marokko] zurücklässt, wird er dich beim dritten Mal bitten, ihn freiwillig nach Hause zu bringen.“ Bei Desert Dumps werden die Extrembedingungen der Sahara genutzt, um Migrierende zu zähmen, ihren Willen zu bändigen und sie damit in ihr Heimatland rückführbar zu machen.
Terrain-Politiken arrangieren gefährliche Umwelten
Im Falle von „Alligator Alcatraz“, den Inseln des Evros oder Desert Dumps bedrohen Naturgefahren Menschenleben nicht einfach gemäß einem schwer kalkulierbaren Risiko (wie bei Flutkatastrophen), sondern werden kalkuliert gegen migrantisches Leben gerichtet. Terrain-Politiken arrangieren natürliche Potenziale zur Migrationsabwehr: die Tierwelt der Everglades, die Abtrennung der Flussinseln oder die Hitze der Sahara. So werden natürliche Umwelten zu gefährlichen Grenzzonen gemacht. Die Gefahr für Migrierende liegt nicht in der Natur selbst, sondern in ihrer Indienstnahme durch die Migrationspolitik.
Wenn Naturgefahren zur Migrationsabwehr genutzt werden, wird ‚dreckige‘ Grenzarbeit aus dem bisherigen moralischen Zusammenhang herausgehoben: Anstelle einer Begegnung zwischen Grenzbeamter und Migrant trifft nun eine vermeintlich neutrale Natur auf Migranten. Wer könnte diese unrühmliche Migrationspolitik besser zusammenfassen als Donald Trump mit Verweis auf sein neues Lager? – „A lot of bodyguards and a lot of cops in the form of alligators.“
Aktuell PanoramaQuellen:
- Garelli, G., & Tazzioli, M. (2022). When the „Via“ is Fragmented and Disrupted: Migrants Walking along the Alpine Route. In W. Walters, C. Heller, & L. Pezzani (Eds.), Viapolitics: Borders, Migration, and the Power of Locomotion (pp. 235–257). Durham: Duke University Press, 2022.
- Teunissen, P. (2025). Infrastructures, Riverscapes, and the Governance of Mobility. The Evros/Meriç River and the Infrastructuring of Nature. In: Antipode 57 (2), 691–713.
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