
Unser Umgang mit Streit
Vom Paketboten zur TikTok-Ikone
Die ‚bellenden Hunde, die nie beißen‘ treffen plötzlich auf Menschen, die tatsächlich zuschlagen. Warum beides gleichermaßen tabu sein sollte – und was das über unsere Streitkultur verrät.
Von Edgar Pocius Montag, 01.09.2025, 10:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 01.09.2025, 9:58 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Denkt man an Szenen, in denen die Fäuste fliegen, haben viele sofort Bilder aus amerikanischen Filmen im Kopf: ein kurzer Wortwechsel, ein paar harte Blicke – und schon liegt einer k. o. In anderen Kulturen, etwa in Teilen Osteuropas oder Lateinamerikas, können Schlägereien sogar damit enden, dass die Beteiligten sich anschließend die Hand geben und Freunde werden. Dort ist der Kampf weniger pure Gewalt als vielmehr ein Ritual: Ein Test von Mut und Grenzen – das eigentliche Gespräch folgt erst danach. Zwar gehen diese wilden Zeiten langsam vorbei, doch körperliche Auseinandersetzungen wirken heute umso befremdlicher und werden konsequenter bestraft.
In Deutschland hingegen verlaufen Konfrontationen meist ganz anders. Handgreiflichkeiten sind selten. Stattdessen erinnern die Konflikte an Shitstorms im Netz: endlose Wortgefechte, aufgeblasene Machoposen mit drohender Körpersprache, dazu Beleidigungen unter der Gürtellinie – oft mit erniedrigenden oder sogar rassistischen Ausdrücken. Diese Streitkultur hat historische Wurzeln: Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Politik stark auf anti-autoritäre und anti-gewaltorientierte Werte. Gewalt wurde nicht nur moralisch geächtet, sondern auch juristisch streng sanktioniert. Selbst wer sich körperlich verteidigt, muss mit erheblichen Konsequenzen rechnen.
Auf den ersten Blick klingt das nach Fortschritt: eine Gesellschaft, die Konflikte mit Worten statt mit Fäusten austrägt. Doch daraus entsteht, was manche eine „Scheinsicherheit“ nennen. Menschen beleidigen oder drohen mit Gewalt, ohne ernsthaft damit zu rechnen, dass jemand tatsächlich zuschlägt. So entsteht eine Kultur der Provokation, des Schreiens und des Imponiergehabes – doch selten eskaliert sie wirklich. In diesem Umfeld können Worte immer drastischer werden, weil die Sprecher davon ausgehen, dass sie folgenlos bleiben.
„Das Problem zeigt sich, wenn diese ‚anti-gewaltgeprägte‘ Streitkultur auf Menschen trifft, die aus Gesellschaften kommen, in denen Worte Gewicht haben und Beleidigungen ernst genommen werden.“
Das Problem zeigt sich, wenn diese „anti-gewaltgeprägte“ Streitkultur auf Menschen trifft, die aus Gesellschaften kommen, in denen Worte Gewicht haben und Beleidigungen ernst genommen werden. Für sie ist eine rassistische Bemerkung oder eine direkte Provokation kein „leeres Gerede“, sondern eine Grenzüberschreitung, die eine Antwort verlangt. Dann prallen zwei Welten aufeinander: Die „bellenden Hunde, die nie beißen“ treffen plötzlich auf jemanden, der tatsächlich zuschlägt.
Der Fall des DHL-Fahrers in Herne illustriert diese Dynamik eindrücklich. Ein Paar beschimpfte und bedrohte ihn – vermutlich auch mit rassistischen Äußerungen – in der Annahme, es bleibe beim verbalen Schlagabtausch. Der Fahrer versuchte zunächst zu deeskalieren und warnte sogar, er könne kämpfen. Als er schließlich zuschlug, waren das Paar – und die Öffentlichkeit – entsetzt. Die Erwartung war: Es bleibt beim verbalen Spiel, nicht beim Ernstfall. Ein Faustschlag eines DHL-Fahrers entlarvt die heimlichen Spielregeln deutschen Streitens: Beleidigungen sind oft folgenlos, körperliche Reaktionen immer Tabu. Ein System, das kollabiert, wenn Kulturen aufeinandertreffen. Der Paketbote selbst und Anwohner filmen den Vorfall. Die Videos landen in „sozialen“ Netzwerken – und gehen viral.
„Das Ungleichgewicht zwischen geschützter verbaler Aggression und kriminalisierter körperlicher Reaktion schafft Frust.“
Damit treten die Widersprüche der deutschen Gesellschaft offen zutage. Zum einen ist Paketlieferung ein harter, oft von Migranten ausgeübter Job: lange Arbeitszeiten, hoher Druck, fordernde Kundschaft. Sie leisten eine Arbeit, die viele Einheimische nicht machen wollen – und erfahren dafür nicht selten Respektlosigkeit. Zum anderen verlangt ein streng sanktionierendes Rechtssystem, dass diese Beschäftigten selbst Demütigungen und Beleidigungen schweigend ertragen. Das Ungleichgewicht zwischen geschützter verbaler Aggression und kriminalisierter körperlicher Reaktion schafft Frust.
Nicht zufällig wird auf Plattformen wie TikTok die Arbeit bei DHL scherzhaft mit Mixed Martial Arts verglichen – als wäre Paketzustellung ein Kampfsport. Viele haben das Gefühl: Respektlosigkeit bleibt folgenlos, eine körperliche Antwort hingegen zieht sofort drastische Konsequenzen nach sich. Und doch bleibt festzuhalten: Gewalt ist nie die bessere Lösung. Der Fahrer verlor seinen Job und steht nun vor rechtlichen Problemen. Worte müssen Folgen haben – aber Fäuste eben auch.
„Dieser Fall spiegelt eine tiefere Spannung in der deutschen Gesellschaft.“
Dieser Fall spiegelt zugleich eine tiefere Spannung in der deutschen Gesellschaft: Migranten, die unter schweren Bedingungen um eine Existenz kämpfen, treffen auf Teile der einheimischen Bevölkerung, die von Abstiegsängsten geprägt sind. Der bürgerliche Komfort billiger Online-Bestellungen stößt hier auf die harte Realität: Zustellfahrzeuge, die ohnehin überfüllte Straßen blockieren; Fahrer, die unter enormem Zeitdruck leiden und im Zweifel ein Paket einfach in den Garten werfen müssen. Die heile Welt des bequemen Bürgertums wird durch die prekäre Arbeitsrealität sichtbar gestört.
Wenn Deutschland ähnliche Vorfälle künftig vermeiden will, muss die Gesellschaft zwei Dinge lernen: Erstens, dass Beleidigungen und Respektlosigkeit nicht harmlos sind und nicht als „nur Worte“ abgetan werden dürfen. Für viele scheint es mittlerweile selbstverständlich, ihre Frustration in Form von Provokationen und entwürdigenden Kommentaren an anderen auszulassen. Zweitens, dass jeder, der sich provoziert fühlt, verstehen muss: Gewalt hat immer schwerwiegende Konsequenzen. Auf Beleidigungen und Bedrohungen mit Fäusten zu reagieren, ist ein Preis, der es nie wert ist. Meinung
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