
Zehn Jahre „Flucht 2015“
„Ich habe oft geweint und hatte Heimweh“
2015 kamen innerhalb weniger Monate Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland. Angela Merkel gab die Parole aus „Wir schaffen das“. Heute sind die meisten gut integriert – wie Familie Ghnim aus Syrien und Ismael Abdulkarim aus dem Sudan.
Von Martina Schwager Mittwoch, 20.08.2025, 12:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 20.08.2025, 17:30 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Als Zuhel Ghnim von seiner Flucht aus Syrien Mitte 2015 erzählt, schüttelt er den Kopf. „Es waren zu viele Menschen. Das war wie ein Fluss“, sagt der 55-Jährige und breitet die Arme aus. Im Erstaufnahmelager in Bramsche-Hesepe bei Osnabrück wurde er mit Tausenden Flüchtlingen in Zelten untergebracht. Es gab keine Privatsphäre. Aber er lobt Deutschland für die Aufnahme: „Aus menschlicher Perspektive war das gut“, sagt der Elektroingenieur.
Ghnim war 2015 einer von fast 900.000 Geflüchteten, die in Deutschland Schutz suchten. Das waren mehr als viermal so viele wie im Jahr zuvor. Rund ein Drittel stammte wie er aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Auf der sogenannten Balkanroute kamen sie ab dem Sommer gemeinsam mit Zehntausenden Menschen aus Afghanistan, Irak, aber auch aus vielen Balkanländern über Ungarn in Richtung Zentraleuropa und Deutschland.
Vor zehn Jahren, während der Sommerpressekonferenz am 31. August 2015, sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angesichts des starken Flüchtlingszuzugs, Deutschland sei ein starkes Land. Dann ergänzte sie: „Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das.“ Später wurde dieser Satz vielfach zitiert – und kritisiert.
Zuhel und seine Frau Lujain Ghnim, die mit den beiden Söhnen 2018 nach Osnabrück zogen, sind der Ex-Kanzlerin und vielen in Deutschland dankbar. „Unsere Vermieterin und zwei Sprachlehrerinnen fragen wir auch heute noch, wenn wir Hilfe brauchen. Sie sind jetzt unsere Freundinnen“, schwärmt die 43-Jährige.
„Geht raus und integriert euch“
Die ersten Monate in Osnabrück waren dennoch schwer. „Ich habe oft geweint und hatte Heimweh“, sagt Lujain. Die studierte Grundschullehrerin absolvierte wie ihr Mann sämtliche Sprachkurse, ließ sich zur Erzieherin ausbilden. Heute ist sie in Vollzeit in einer Kita beschäftigt. Elektroingenieur Zuhel fand einen Job als Elektriker. Ihre Söhne sprechen akzentfreies Deutsch, haben deutsche und internationale Freunde. „Wir haben ihnen gesagt, geht raus und integriert euch“, sagt der Vater.
Nabil (18) besucht ein Gymnasium und will Medizin studieren. Ali (22) absolviert ein duales Maschinenbau-Studium. „Seine Freundin Lena ist im Frühjahr mit auf Familienbesuch in die Heimat gereist“, erzählt die Mutter und ihr Gesicht strahlt. Mittlerweile sind die Ghnims deutsche Staatsbürger.
Ähnlich wie der syrischen Familie sei es der großen Mehrheit der Geflüchteten von 2015 ergangen, sagt der Berliner Migrationsforscher Herbert Brücker. Rund 85 Prozent der heute in Deutschland lebenden Geflüchteten haben einen rechtlich anerkannten Schutzstatus. Zwei Drittel sind heute in den Arbeitsmarkt integriert. „Nur etwa ein Zehntel lebt noch in einer Gemeinschaftsunterkunft“, sagt der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität und Leiter des Forschungsbereichs „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.
„Ich habe so viel erreicht“
Einer der Gründe für den Integrationserfolg sei die Beschleunigung von Asylverfahren gewesen, wodurch Unternehmen und Asylsuchende schnell Klarheit gewonnen hätten, sagt Brücker. Wichtig war auch die Öffnung von Sprach- und Integrationskursen, wie er erklärt: „Sprache ist nun mal der Schlüssel zur Integration.“ Nicht zuletzt habe die breite Willkommenskultur eine entscheidende Rolle gespielt, sagt der Experte, der gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern eine fortlaufende jährliche Befragung von Geflüchteten leitet.
Viel Hilfsbereitschaft hat auch Ismael Abdulkarim erlebt. Der heute 25-Jährige kam ein dreiviertel Jahr nach Familie Ghnim in Osnabrück an. Als 16-Jähriger hatte er sich ganz allein aus dem Sudan auf den Weg gemacht – durch Libyen, wo er fast verdurstet wäre, und über das Mittelmeer: „Mit 92 Menschen in einem kaputten Schlauchboot – ich dachte, ich ertrinke.“
Fast zehn Jahre später sitzt Abdulkarim in der Wohnung eines Freundes in Osnabrück und ringt die Hände, als er zurückblickt. „Ich habe so viel erreicht“, sagt er und heftet die Augen auf den Tisch vor sich: Deutsch gelernt, Hauptschulabschluss und Lehre gemacht, Job, Fußballverein und Freunde gefunden, wenn auch manches davon auf Umwegen.
„Ich habe hier viele Möglichkeiten gefunden.“
Dankbar ist der gelernte Maschinenführer vor allem seinen ehemaligen Betreuern in der Wohngruppe und seinem Physik- und Mathelehrer. „Ohne ihn hätte ich den Abschluss nicht geschafft“, ist er sich sicher. Er findet: „Wenn man in Deutschland ein Ziel hat und arbeitet, kann man was werden. Ich habe hier viele Möglichkeiten gefunden.“
Ismael Abdulkarim und der Familie Ghnim gefallen an Deutschland vor allem die Meinungsfreiheit und dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. „Es gibt sogar ein Gesetz gegen Rassismus“, lobt Zuhel Ghnim. Wütend ist er aber auf Zuwanderer, die Straftaten begehen oder islamistische Ideologien verbreiten: „Die machen unseren Ruf kaputt.“ Er meint, die Deutschen hätten damals besser kontrollieren sollen, wen sie aufnehmen.
Abdulkarim, der ohne Eltern aufwuchs und zu seinen beiden Brüdern keinen Kontakt mehr hat, zählt weitere Dinge auf, die in Deutschland besser seien als in seiner Heimat: „Es gibt keinen Krieg, Kinder haben Eltern und gutes Essen, können zur Schule gehen. Jeder kann arbeiten und bekommt gute Medizin. Alle, die in Europa geboren sind, haben Glück. Aber die Menschen hier wissen das nicht zu schätzen.“ (epd/mig) Leitartikel Panorama
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Studie Sozialer Abstieg begünstigt Hinwendung zu Rechtspopulisten
- Nazi-Duftbaum im Polizei-Auto Neue rechtsextreme Verdachtsfälle bei sächsischer Polizei
- Mehr als nur ein Name Die Anton-Wilhelm-Amo-Straße
- Rassismus überschattet Fußball Schalke-Trainer Klartext: „Das ganze Stadion hat…
- Aufarbeitung ohne Entschädigung Bundesregierung lehnt Wiedergutmachung für ehemalige…
- Gute Tote, schlechte Tote Einmal Narrative Change, bitte!