
Urteil
Höchststrafe für vierfachen Feuermord – aber kein „Solingen 2.0“
Der geständige Solinger Brandstifter ist wegen vierfachen Mordes zur Höchststrafe verurteilt worden. Damit endet ein spektakulärer Prozess, der eine zentrale Frage offenlässt: War die Tat rassistisch motiviert – ein „Solingen 2.0“? Indizien dafür gab es viele.
Mittwoch, 30.07.2025, 19:02 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 30.07.2025, 19:04 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Für den vierfachen Feuermord von Solingen ist der 40-jährige Angeklagte schuldig gesprochen und zur Höchststrafe verurteilt worden. Das Wuppertaler Landgericht verhängte lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung gegen den Solinger. Zudem stellte es die besondere Schwere der Schuld fest. Den Überlebenden und Hinterbliebenen sprach das Gericht zwischen 2.000 und 20.000 Euro zu.
Der Staatsanwalt hatte bereits am Montag die Höchststrafe für den Solinger beantragt. Mehrere Nebenkläger schlossen sich dem an. Der drogenabhängige, arbeitslose Deutsche hatte den vierfachen Mord, weitere Brandstiftungen in Wohnhäusern und eine Macheten-Attacke auf einen langjährigen Freund gestanden. In seinem Schlusswort zeigte er sich reuig. Trotz des raschen Geständnisses kamen im Prozess immer wieder neue Details ans Licht. Die Polizei musste umfangreich nachermitteln.
Zweifel am behaupteten Motiv
Vor allem die Zweifel am behaupteten Motiv des 40-Jährigen nahmen im Prozessverlauf zu. Auch vor der Urteilsverkündung ist es im Prozess zu einem Schlagabtausch von Verteidigern und Nebenklage gekommen. Hinweise auf eine rechte Gesinnung des Angeklagten seien verheimlicht worden, sagte Nebenklage-Vertreterin Seda Başay-Yıldız. Erst auf Druck der Nebenklage habe die Polizei umfangreich nachermitteln müssen.
Ein volksverhetzendes Gedicht in der Garage des Angeklagten sei für jeden sichtbar gewesen, nur nicht für die Ermittler, sagte sie. Ein Vermerk der Polizei, die die Tat anfangs als rassistische Tat eingestuft habe, sei durchgestrichen und abgeändert worden. „Alles, was rechts sein könnte, wird kleingeredet“, kritisierte die Rechtsanwältin.
Schlampige Ermittlungen
Das Feuer in einem Wohnhaus der Wuppertaler Normannenstraße im Januar 2022, der ebenfalls auf das Konto des Geständigen gehen soll, sei damals als technischer Defekt abgetan worden, obwohl an zwei Stellen im Haus gleichzeitig Feuer ausgebrochen war. Ein Gutachter sei drei Jahre später schon nach wenigen Minuten zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um einen vorsätzlichen Brandanschlag gehandelt habe. Gegen Angeklagten wird deswegen inzwischen gesondert ermittelt.
„Wenn man damals seine Arbeit gemacht hätte, hätten diese Menschen nicht sterben müssen“, kritisierte Başay-Yıldız im Hinblick darauf, dass der Täter dann aus dem Verkehr gezogen worden wäre und er keine weiteren Verbrechen mehr hätte verüben können. Wegen des Brandes wird inzwischen gesondert gegen den Angeklagten ermittelt.
„Tritt in den Hintern“ der Ermittler
Der Angeklagte habe einschlägig rechtsradikale Seiten besucht. Er habe sich mehrfach ein Lied mit dem Text „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“ angehört, das verbotene Horst-Wessel-Lied sowie Propagandareden von Hitler und Himmler. Das sei als „sporadisches Interesse“ vom Staatsschutz abgetan worden. „Der Angeklagte hat ein Doppelleben geführt, er hat ein zweites Gesicht“, sagte die Anwältin. In einer leerstehenden Wohnung des Hauses, in dem der Angeklagte wohnte, wurde außerdem Literatur über NS-Größen gefunden – darunter „Mein Kampf“ von Adolf Hitler.
Die Verteidiger hielten der Nebenklage zugute, dass sie Schlampereien aufgedeckt habe und die Polizei schließlich gezwungen war, weitere umfangreiche Ermittlungen zu führen. Der „Tritt in den Hintern“ habe aber ihren Mandanten eher entlastet. Bei 14.000 Internetsuchen habe man lediglich in zwölf Fällen rechte Inhalte entdeckt. Es gebe keine unmittelbaren Anhaltspunkte für einen rechtsradikalen Anschlag. Im Übrigen hätte es für den Angeklagten keinen Unterschied gemacht, dies zuzugeben. „Er kassiert ohnehin die Höchststrafe, das hätte er auch einräumen können“, sagte sein Verteidiger.
Das digitale Leben des Angeklagten sei zehn Jahre rückwirkend durchleuchtet worden, ohne Kontakte zu rechten Gruppen oder Hinweise auf eine stille Radikalisierung zu entdecken, hatte Staatsanwalt Christopher Bona betont. Die Treffer mit rechten Inhalten lägen im Promillebereich.
Bei dem tödlichen Feuer am 25. März 2024 starb in Solingen eine türkeistämmige bulgarische Familie im Dachgeschoss – die 28 und 29 Jahre alten Eltern und ihre beiden Töchter im Alter von drei Jahren sowie wenigen Monaten. Mehrere Menschen wurden bei verzweifelten Sprüngen aus dem brennenden Haus schwer verletzt. Der Angeklagte wohnte selbst früher im Hinterhaus des Brandhauses. Nach einem Streit mit seiner Vermieterin musste er ausziehen.
Der Mann mit dem Rucksack
Aufnahmen aus Überwachungskameras hatten die Ermittler auf die Spur des 40-Jährigen gebracht: Sie hatten den früheren Mieter in der Brandnacht gleich mehrmals in der Nähe des Brandhauses mit Rucksack aufgezeichnet – als einzigen in der fraglichen Zeit.
Die Ermittler hatten bereits einen Durchsuchungsbeschluss für seine Wohnung beantragt, als sich in Solingen am 8. April 2024 ein weiteres unheimliches Verbrechen ereignete: Mit einer Machete und wuchtigen Hieben hatte der Deutsche auf den Kopf eines Freundes eingehackt. Das Opfer überlebte lebensgefährlich verletzt.
Im Keller des Arbeitslosen fanden die Ermittler dann ein Arsenal aus Brandbeschleunigern und Utensilien für Zünder. Die Anklage legt dem jetzt Verurteilten auch noch zwei ältere Brandstiftungen zur Last – im November 2022 und im Februar 2024. In beiden Fällen hielten sich zur jeweiligen Tatzeit Menschen in den Wohnhäusern auf.
Während des Prozesses geriet der Angeklagte sogar noch für zwei weitere Brandstiftungen in Verdacht, die nicht Teil der Anklage sind. So soll er nach einem Streit mit einem marokkanischen Nachbarn im Wohnhaus seiner Freundin in Wuppertal Feuer gelegt haben, kurz nachdem diese ausgezogen war. Auch das Auto einer Ex-Freundin wurde Ziel eines Brandanschlags.
Opferberatung: Urteil hinterlässt offene Wunden und Misstrauen.
Die Opferberatung Rheinland sieht nach dem Urteil die zentrale Frage nach dem Tatmotiv – insbesondere dem möglichen rassistischen Hintergrund – unbeantwortet. Viele Hinterbliebenen seien eigens zur Urteilsverkündung aus dem Ausland angereist „in der Hoffnung auf Klarheit, Anerkennung und Gerechtigkeit. Doch die bleibt aus.“, erklärte die Opferberatung nach der Urteilsverkündung.
Die Ermittlungsbehörden hätten zentrale Spuren nicht verfolgt, Beweismittel monatelang nicht ausgewertet, rechtsextreme Inhalte nicht als relevant bewertet oder nicht dem Täter zugeordnet. Das Urteil spiegele diese Lücken wider. „Für viele Betroffene ist dieses Urteil kein Abschluss – sondern der Beginn eines langen inneren Konflikts mit dem, was offenbleibt“, sagt Jan-Robert Hildebrand von der Opferberatung. „Die Frage nach dem Warum bleibt unbeantwortet. Und das schmerzt – emotional, politisch und existenziell.“
Strukturelle Ermittlungsfehler: Zweifel statt Aufklärung
Sabrina Hosono, Bildungsreferentin der Opferberatung ergänzt: „Wäre frühzeitig, umfassend und sensibel ermittelt worden, hätten zentrale Fragen vielleicht beantwortet werden können. So bleiben Zweifel. Und die wiegen für Betroffene schwer. Wer eine rassistische Motivation nicht einmal prüft, kann sie auch nicht ausschließen – und verliert das Vertrauen derer, die betroffen sind.“ Die Ermittler hatten nur wenige Tage nach dem Brand erklärt, keine Hinweise auf eine rassistische Motivation der Tat gefunden zu haben.
„Dieses Urteil zeigt nicht nur ein individuelles, sondern ein institutionelles Versagen. Die Frage ist nicht, ob die Tat rassistisch war – sondern, warum der Staat nicht alles getan hat, um diese Frage sicher beantworten zu können“, so Hosono weiter.
Erinnerungen an Solingen 1993 – und ein Verdacht
Die Tat hatte Erinnerungen an den rassistischen Anschlag von Pfingsten 1993 geweckt, als vier junge Männer aus der Neonazi-Szene in Solingen das Haus der türkischstämmigen Familie Genç in Brand setzten. Der Fall hatte national und international hohe Wellen geschlagen und gilt als eines der schwersten rassistischen Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Stadtgesellschaft erinnert jedes Jahr am 29. Mai an dieses Verbrechen.
Beobachter munkeln, in dem aktuellen Fall hätten die Ermittler mögliche rechtsextreme Spuren deshalb nicht verfolgt, um der Stadt einen weiteren Gedenktag zu ersparen. Ein „Solingen 2.0“, so die Mutmaßungen, hätten Staat und Stadt nicht haben wollen. (dpa/epd/mig) Leitartikel Recht
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