
Unter weißen Salatblättern
Bildungsbürgertum aus der Sicht der Anderen
Was passiert, wenn sich Arbeiterkinder zwischen Elite-Studis wiederfinden? Beobachtungen über stille Codes und Machtdemonstration – und die Erkenntnis, wie subtil Ausgrenzung übersetzt wird.
Von Edgar Pocius Mittwoch, 09.07.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 08.07.2025, 7:48 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Sommersemester. Muay-Thai-Kurs im Hochschulsport. Man schwitzt selbst im Schatten. Durch die offenen Türen dringt weniger frische Luft als heiße, flimmernde Hitze.
Im Kurs stehen verschiedene Arten von Studierenden nebeneinander auf den Matten. Da sind die Deutschen mit Migrationshintergrund – vielleicht schon in dritter oder vierter Generation, nur noch am Nachnamen zu erkennen. Sie haben es an die Uni geschafft, reden unauffällig, als müssten sie sich ständig anpassen. Dann gibt es die „richtigen“ Ausländer: meist aus der oberen Mittelschicht anderer Länder, deren Eltern ihnen ein Auslandsstudium finanzieren können.
Und dann gibt es die Kinder des deutschen Bildungsbürgertums. Eher reserviert, fast kühl. Sie sprechen in Floskeln, in verschlüsselten Codes. Ihre Körper sind schlank, ihre Sportkleidung neu – dezent, aber teuer. Kein Gucci, keine Logos, nichts Lautes. Aber auch nichts von TK Maxx oder Zara. Es ist der Stil derer, die gelernt haben, mit Understatement zu zeigen, was sie sich leisten können.
Auch ihre Bewegungen sind anders. Während einige mit voller Kraft auf die Pratzen schlagen, um sich selbst zu spüren, wirken manche Paare fast … künstlich. Als wären ihre Körper nicht ganz mit dem Willen verbunden – wie Spielfiguren, die ferngesteuert kämpfen. Die Schläge sind elegant, aber seltsam distanziert. Eher performativ als körperlich. Mit einer Art ehrfürchtigem Staunen darüber, dass der eigene Körper überhaupt zu Gewalt fähig ist.
Ein etwas kräftigerer Typ aus einer Arbeiterfamilie trifft mit voller Wucht. Der schmale Bildungsbürger gegenüber fliegt beinahe rückwärts. „Sorry“, murmelt Mike. Der andere spannt sich so an, als würde er gerade sein Leben riskieren.
„Werden Kinder aus Arbeiterfamilien oder mit migrantischem Hintergrund immer zu Langzeitstudierenden … ?“
Ich frage mich: Werden Kinder aus Arbeiterfamilien oder mit migrantischem Hintergrund immer zu Langzeitstudierenden, die irgendwann versuchen, ihre Frustration über Professoren – die Hausarbeiten monatelang nicht lesen und auf freundliche E-Mails nicht antworten – im Kampfsport abzureagieren?
Ein Mädchen fragt mich nach meinem Namen. Ich zögere. Sind Vornamen auch ein geheimer Code? Ich begegne hier ständig Maximilians, Charlottes, Luisas und Susannes – aber keine Chiaras, Kevins, Andys oder Mikes. Und wenn Andy oder Mike doch hier sind, studieren sie meistens schon im fünfzehnten Semester.
Das Mädchen ist hübsch, aber ich traue mich nicht, sie nach ihren Kontaktdaten zu fragen. Ihr edler Habitus, das leise, fast flüsternde Sprechen – es wirkt auf mich wie aus einer anderen Welt. Ich dusche schnell, schnappe meine Tasche und fahre zur Bibliothek.
Mike bleibt noch kurz und schimpft auf die Uni. Dass die Professoren kein Interesse an Diskussionen hätten, sondern nur erwarteten, dass man in der Prüfung exakt das wiederholt, was sie im Seminar gesagt haben. Akademische Karriere durch Anpassung und Schmeichelei – nicht durch Denken. Ich höre ihm zu und denke: Wahrscheinlich ist er politisch eher rechts.
„Selbst wenn es nichts zu tun gibt, soll man so tun, als gäbe es etwas. Die größte Sünde: kurz stehen bleiben.“
Meine Nebenjobs in Supermärkten und Restaurants haben mir die deutsche Arbeiterklasse sehr klar vorgestellt. Wenig Höflichkeit, viele Hierarchien, Mobbing als Alltag. „Maloche“ wird dort als moralischer Wert verstanden – fast wie eine Art Überlegenheit. Und von oben kommen ständig Drohungen: Wer sich ausruht, fliegt. Wer nicht lächelt, wird ersetzt. Selbst wenn es nichts zu tun gibt, soll man so tun, als gäbe es etwas. Die größte Sünde: kurz stehen bleiben.
Ich verstehe vollkommen, warum in Deutschland so wenige junge Leute freiwillig eine Ausbildung oder einen Handwerksberuf wählen und stattdessen die Universitäten überfüllen. Nicht wegen der Arbeit selbst – viele mögen körperliche Tätigkeit – sondern wegen der Atmosphäre. Die Umgebung ist oft vergiftet, die Sprache rau, der Umgang respektlos. Und das liegt nicht nur daran, dass die junge Generation angeblich „Schneeflocken“ seien.
Mike erzählt noch, dass der Muay-Thai-Trainer 20 Euro pro Stunde verdient – mehr als viele Minijobs für Studierende. Ich denke mir, dass die deutsche Arbeiterklasse eigentlich solidarischer und linker sein müsste. Stattdessen spielen viele dieses konservative Spiel von Leistung, Anpassung und Härte – und hetzen sich dabei gegenseitig nieder.
Ich gehe kurz zur Studentenkantine. Fast alle Gerichte sind vegan oder vegetarisch. Eigentlich liebe ich Gemüse und Obst – aber nicht stundenlang gedämpft und erwärmt, bis es nach Pappe mit einer Prise Salz schmeckt. Ich nehme das Rinderhacksteak und einen Becher Dosenfrüchte. Neben dem Salat finde ich etwas Feta-Käse, den ich mit reichlich Olivenöl übergieße. Eine pseudo-griechische Mahlzeit. Ein Stück Baguette und Butter noch dazu.
„Sie schaut auf meinen Teller, prüfend, sagt nichts. Ich versuche, mich nicht zu rechtfertigen.“
Dann setzt sich das Mädchen aus dem Muay-Thai-Kurs neben mich. Auf ihrem Teller: trockene Gemüsesalate, die mich an Baumblätter im Spätsommer erinnern – noch nicht braun, aber schon ausgebleicht von der Sonne. Darunter weißer Reis.
Sie schaut auf meinen Teller, prüfend, sagt nichts. Ich versuche, mich nicht zu rechtfertigen.
„Du hast erzählt, dass du ein Erasmus-Semester machen willst?“ frage ich, um ihre Aufmerksamkeit umzulenken.
„Ja, in Barcelona.“
„Erasmus-Studierende machen doch eh nur Partys. Da kannst du dich entspannen.“
Sie schaut mich an, mit einer Mischung aus Neugier und Unsicherheit.
„Ja, ich würde gern neue Leute kennenlernen, aber Party ist nicht so meins.“
„Kannst du Spanisch?“
„Ja. Ich war im Sommer in Mexiko und hatte davor drei Monate Austausch in Argentinien.“
„Nice. Dann kannst du jetzt auch Katalanisch lernen.“
„Ein mehrmonatiger Auslandsaufenthalt? Für mich unbezahlbar.“
Luisa lacht – leicht verkrampft, oder ist es ein nervöses Grinsen? Ihre Mimik bleibt schwer lesbar.
Ich erinnere mich an meine eigene Reise: ein Billigflug in die Türkei, mehr war nicht drin. Ein mehrmonatiger Auslandsaufenthalt? Für mich unbezahlbar. Luisa hingegen wird nicht nur von ihren Eltern unterstützt, sondern arbeitet nebenbei in einem Marketingbüro – eine Stelle, bei der ich mich nicht einmal zu bewerben getraut hätte.
Ich verabschiede mich, ohne nach Instagram oder WhatsApp zu fragen.
Später, vor dem Laptop, öffne ich ein Dokument, um an einer Hausarbeit zu schreiben – aber meine Neugier lenkt mich ab. Mit zehn Sekunden Googeln finde ich Luisas Facebook- und Instagramprofile. Das Instagramprofil ist privat, rund 200 Follower – eher wenig. Facebook ist komplett offen, sogar die Freundesliste sichtbar. Keine gemeinsamen Freunde. Kein einziger slawisch klingender Nachname, keine Spur von migrantischem Hintergrund. Ihre ausländischen Freunde leben nicht in Deutschland – es sind Menschen, die sie in Argentinien, Mexiko oder Frankreich kennengelernt hat. Eine geschlossene Welt, denke ich.
Das Bildungsbürgertum ist selektiv. Und eigentlich, im Kern, konservativ.
„Aber ist dieses ‚links‘ sein, dieses demonstrative Mitgefühl, nicht auch performativ?“
Schon Lessing meinte, dass bürgerliche Moral auf Empathie und Mitleid basiert. Aber ist dieses „links“ sein, dieses demonstrative Mitgefühl, nicht auch performativ? Man grenzt sich durch dezente Mode, durch Ernährungstrends, durch elitäre Weltanschauungen von Migranten und Arbeitern ab – und wirft ihnen gleichzeitig moralischen Verfall vor. Zu wenig Umweltschutz, zu wenig Rücksicht, zu viel Aggression.
Aber Empathie, die sich von oben herab äußert, ist keine Solidarität. Es ist bloß ein Spiegel, in dem man sich selbst als moralisch überlegen bewundern kann.
Eine ganz verkehrte Welt, denke ich.
Die Unterprivilegierten kämpfen für mehr Ausbeutung, für Leistungsethos und sogenannte „traditionelle Werte“ – Werte, die nichts anderes sind als bürgerliche Institutionen. Die Ehe zum Beispiel war immer ein Privileg des Bürgertums: Man musste sie sich leisten können. Stabiles Einkommen, ein gewisses Kapital, genügend Zeit, Wohnraum und Ressourcen, um Kinder zu erziehen, ihnen Bildung zu ermöglichen.
Für Menschen mit geringem Einkommen, hohem Stress, unsicherem Wohnverhältnis und wenig institutioneller Unterstützung war das klassische Beziehungsmodell oft unerreichbar – oder ist gerade daran gescheitert.
Alternative Formen des Zusammenlebens, nicht-heteronormative Sexualitäten, Kollektivität – sie kamen nie aus der Mitte der Gesellschaft. Sie wurden lange Zeit durch bürgerliche Gesetze unterdrückt.
„Die bürgerlichen Milieus … haben die sozialen, finanziellen und psychischen Ressourcen, um am Ende doch oft wieder in stabilen, geregelten Beziehungen zu landen.“
Und jetzt? Jetzt ist es das Bürgertum, das die „grenzenlose Entfaltung“ feiert: Polyamorie, queere Identitäten, Wahlverwandtschaften. Währenddessen wünschen sich viele aus der Arbeiterklasse nichts sehnlicher als klassische Beziehungsmodelle, Normen, Stabilität – und sind dabei oft von Queerfeindlichkeit, Misogynie und Misstrauen gegenüber allem „Anderen“ geprägt.
Das Paradoxe: Die bürgerlichen Milieus experimentieren mit Lebensmodellen, durchleben offene Phasen, testen und verwerfen – aber sie haben die sozialen, finanziellen und psychischen Ressourcen, um am Ende doch oft wieder in stabilen, geregelten Beziehungen zu landen.
Diejenigen aus der unteren Klasse hingegen erleben drei gescheiterte Ehen, finanzielle Krisen, Suchtprobleme – und machen das System für ihr persönliches Scheitern verantwortlich, ohne zu merken, dass genau dieses System ihre Vorstellungen von „richtigem Leben“ überhaupt erst geprägt hat. Meinung
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