
Stefan Keßler im Gespräch
Flüchtlingsdienst: „Wir haben keinen Notstand“
Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland wird 30. Direktor Stefan Keßler bestreitet im Gespräch, dass es in irgendeiner Kommune bereits zu einem „Notstand“ gekommen ist. Er kritisiert aktuelle Tendenzen in der Flüchtlingspolitik sowie Kürzungen von Hilfsgeldern. Er schaut aber auch dankbar zurück.
Von Lukas Philippi Dienstag, 17.06.2025, 14:52 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 17.06.2025, 14:53 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Herr Kessler, wie bewerten Sie die Politik der neuen Bundesregierung, den Zugang für Flüchtlinge und Asylsuchende nach Deutschland einzuschränken und Abschiebungen zu erleichtern?
Stefan Keßler: Die aktuelle Debatte erfüllt uns mit großer Sorge, denn die schutzbedürftigen Menschen selbst geraten immer mehr aus dem Blick. Es geht jetzt anscheinend nur noch um Zahlen und Quoten. Die dahinter stehenden einzelnen Menschen kommen kaum noch vor. Wenn jetzt der Familiennachzug für bestimmte Flüchtlingsgruppen eingeschränkt wird, dann geht es hier doch um den Schutz von Ehe und Familie, also um Kernwerte unserer Gesellschaft. Und das wird jetzt über den Haufen geworfen, in der Hoffnung, ein paar Wählerstimmen mehr zu bekommen. Da frage ich mich schon, welche Auswirkungen diese Debatte nicht nur auf die betroffenen Menschen selbst hat, sondern auch für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Aber das Thema Migration und die Forderung nach Beschränkung der Flüchtlingszahlen scheint ein Grund für den Erfolg der AfD.
Mit dieser Politik und Rhetorik, die gegenwärtig gefahren wird, leiten die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien nur Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten. Wenn ich als CDU/CSU die Aufnahme von Flüchtlingen immer nur als Gefahr und als Problem beschreibe, dann ist das erst einmal Futter für Rechtspopulisten.
Für einige Kommunen ist die Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen tatsächlich eine Herausforderung. Im Gegensatz zu Bundesinnenminister Dobrindt bestreite ich aber, dass es in irgendeiner Kommune bereits zu einem „Notstand“ gekommen ist. Selbst in Berlin haben wir große Probleme, aber noch keinen Notstand. Die Herausforderungen sind machbar, wenn man den politischen Willen mitbringt.
Die großen Probleme liegen doch ganz woanders: die Bewältigung der Folgen des Klimawandels, eine verfehlte Wohnungsbaupolitik, wirtschaftliche Probleme – all das hat wenig mit Geflüchteten und Migranten zu tun. Beispiel Kindergartenplätze: In einigen Kommunen ist es schwer, Kinder von Geflüchteten unterzubringen. In anderen Kommunen und Landkreisen werden Kindergärten aber geschlossen, weil dort die Kinder fehlen. Wir haben in Deutschland also keinen landesweiten Notstand. Stattdessen werden in der Debatte um die Zuwanderung Schutzbedürftige für die Folgen einer Reihe von Fehlern der Politik verantwortlich gemacht.
Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Deutschland feiert in diesen Tagen seit 30-jähriges Bestehen. Ihr internationaler Dienst ist sogar schon 45 Jahre alt. Sie selbst sind seit 23 Jahren in unterschiedlichen Positionen dabei. Wie fällt ihr Rückblick aus?
Wenn ich zurückblicke, bin ich erst einmal dankbar. Bei dieser Arbeit hat man die Chance, mit unglaublich vielen interessanten Menschen zusammenzuarbeiten, von ihnen zu lernen und sie auf ihren Lebenswegen ein Stück zu begleiten. Dankbar bin ich auch für die vielen Menschen, die uns bislang unterstützt haben und weiter unterstützen, durch Spenden, in der Politik, in der ehrenamtlichen Mitarbeit. Das ist toll und gilt all die 30 Jahre.
Ihr Engagement für Geflüchtete ist aber weiterhin gefragt?
Die Arbeit ist leider immer noch wichtig. Laut neuem Weltflüchtlingsbericht der Vereinten Nationen gibt es aktuell rund 122 Millionen Menschen auf der Flucht. Rund 60 Prozent davon sind Binnenvertriebene, also im eigenen Land auf der Flucht. Von den übrigen finden etwa zwei Drittel Aufnahme in den unmittelbaren Nachbarländern. Sie kommen also gar nicht bis nach Europa. Inzwischen hat etwa Äthiopien rund eine Million Flüchtlinge aus dem Sudan aufgenommen. Zugleich werden aber die internationalen Hilfsgelder zur Unterstützung dieser Menschen von den reichen Industriestaaten gekürzt.
Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Die Not wird immer größer, die Unterstützung für diese Menschen wird aber immer geringer. Diese Entwicklung bereitet uns große Sorge. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst ist ja in vielen Staaten aktiv. Insgesamt stelle ich in Deutschland, aber auch in anderen Staaten, eine zunehmende Entsolidarisierung und wachsende Erbarmungslosigkeit in der offiziellen Politik gegenüber Flüchtlingen fest. Als kirchliche und zivilgesellschaftliche Organisation können wir dem nur unseren Glauben und unsere Hoffnung auf Gerechtigkeit entgegensetzen. Unsere Industriegesellschaften in Europa brauchen Zuwanderung. Zugleich werden Migranten und Schutzsuchende abgewehrt, ohne dass ihre Fähigkeiten und ihre Potenziale in den Blick genommen werden. Dieser Widerspruch wird von der Politik nicht wirklich aufgelöst.
Wo sehen Sie eine Entsolidarisierung gegenüber Geflüchteten?
Zum Beispiel die Debatte um den Umgang mit den Ukraine-Flüchtlingen bei uns. Lange Zeit gab es einen Konsens, dass diese Menschen unsere Solidarität und unseren Schutz brauchen. In den vergangenen Monaten wurde hier aber verstärkt darüber diskutiert, wie lange ukrainische Geflüchtete noch in Deutschland bleiben sollen oder ob sie nicht besser in ihr Land zurückgehen sollten, denn da gäbe es ja auch Regionen, wo sie sicher vor dem Krieg leben könnten. Somit wird die Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine immer mehr infrage gestellt.
Wie schauen Sie auf die Einwanderungspolitik der EU?
Wir werden erst einmal im Sommer 2026 mit der dann wirksam werdenden Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) den Nachfolger der Dublin-Verordnungen bewundern dürfen. Das System hat sich aber nicht großartig verändert, geschweige denn verbessert. Die Reform, auf die man sich geeinigt hat, ist ein typischer EU-Kompromiss – keiner ist damit richtig glücklich! Die EU-Staaten haben sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigt. Das hat zur Folge, dass der Umgang mit Schutzsuchenden und besonders vulnerablen Gruppen nicht geregelt ist. Ich fürchte also, dass mit der GEAS-Reform ab 2026 nicht wirklich viel erreicht werden wird; möglicherweise sogar einiges verschlimmert wird, wenn die Pläne Realität werden, was das Abfangen der Menschen an den Außengrenzen der EU und die Asylverfahren an den Außengrenzen angeht.
Wird das Paket noch einmal aufgeschnürt?
Ob die EU-Kommission jetzt nach den mühsamen Verhandlungen noch einmal einen Anlauf nimmt, um eine Neuregelung der Verteilung Geflüchteter in Europa anzustoßen, das bezweifele ich. Denn die Bereitschaft der EU-Mitgliedsstaaten, sich an einer solchen Diskussion und der Entwicklung realer, nachhaltiger Lösungen zu beteiligen, wird immer geringer.
Jenseits der hohen Politik, wie sieht das Tagesgeschäft des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes hier in Deutschland aus?
Wir kümmern uns weiter um Menschen in Abschiebehaft, die also im Gefängnis sitzen, obwohl sie keine Straftat begangen haben. Wir beraten Menschen in Asylverfahren, bei ausländerrechtlichen Problemen, unterstützen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, nach Sprachkursen. Wir begleiten bei Behördengängen. Und wir bereiten uns auf die Auswirkungen der GEAS ab Sommer 2026 vor, wohl wissend, dass dann die Rechtslage für viele Betroffene noch undurchsichtiger und komplizierter wird. Aber wir feiern auch weiterhin mit geflüchteten Menschen Feste, spielen gemeinsam und versuchen auf diese Weise, Glaube und Hoffnung zu teilen. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama
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