
Toten gedenken, Lebende verachten
Zur Streichung des Antiziganismus-Amtes
Ein Amt verschwindet – und mit ihm historische Verantwortung. Die Entscheidung gegen den Antiziganismusbeauftragten ist mehr als Symbolik: Sie ist ein politisches Statement – eine Verhöhnung der Opfer.
Von Ekrem Şenol Donnerstag, 29.05.2025, 12:39 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 29.05.2025, 12:39 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Deutschland hat ein Gedächtnisproblem. Genauer gesagt: ein selektives. Man gedenkt der Vergangenheit, solange sie sich in Sonntagsreden pressen lässt. Man erinnert sich an Schuld, solange sie politisch verkaufsfähig bleibt. Und man bekämpft Diskriminierung – solange niemand ernsthaft damit anfängt. Die neueste Entscheidung aus dem Bundeskabinett ist da bezeichnend: Der Posten des Antiziganismusbeauftragten wird gestrichen.
Nicht etwa, weil die Aufgabe erfüllt sei: Ein Sprecher des Bundesfamilienministeriums versicherte salbungsvoll, das Thema bleibe „im Ministerium verankert“. Also weg vom Schaufenster in den Keller. Oder: Unrecht-Archivierung in der „Verjährt“-Schublade.
Dabei war die Einführung dieses Amtes im Jahr 2022 ein überfälliger Schritt. Endlich hatte man begriffen – oder zumindest behauptet zu begreifen – dass Antiziganismus in Deutschland nicht nur ein Relikt aus der Nazizeit ist, sondern bis heute virulent. Diskriminierung, Polizeigewalt, Bildungsbarrieren, systematische Ausgrenzung – Sinti und Roma erleben all das nicht als Kapitel in einem Geschichtsbuch, sondern als Kapitel ihrer Gegenwart.
Mehmet Daimagüler, der erste und bisweilen auch der letzte Antiziganismusbeauftragte, war unbequem – und das musste er sein. „Gedenken ohne Konsequenzen für unser Handeln im Hier und Heute ist bloß Ritual“, sagte er als Beauftragter und initiierte eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Verfolgung von Sinti und Roma nach 1945, drängte auf ein echtes Gedenken, das nicht bei Kranzniederlegungen aufhört, sondern bei Gesetzesinitiativen anfängt und forderte eine ständige Bund-Länder-Kommission gegen Antiziganismus. Mit Erfolg: Mitte vergangenen Jahres setzten Bund und Länder eine Kommission ein, um Sinti und Roma im Land mehr zu unterstützen. Wer diese Vorhaben fortführen soll, ist nun unklar.
„Das Thema Antiziganismus ist der neuen Bundesregierung offenbar nicht opportun genug.“
Das Thema Antiziganismus ist der neuen Bundesregierung offenbar nicht opportun genug. Es bringt keine Stimmen. Keine Lobby. Kein Profit. Dabei wäre gerade jetzt Konsequenz nötig. Denn Antiziganismus ist in Europa auf dem Vormarsch. In Ungarn werden Roma offen diskriminiert, in der Slowakei systematisch entrechtet, in Frankreich regelmäßig geräumt. Und auch in Deutschland melden Monitoring-Stellen Jahr für Jahr über neue Höchststände antiziganistisch motivierter Straftaten. Nicht nur das: Sinti und Roma sind nach wie vor mit massiven Vorurteilen belegt, werden medial verzerrt dargestellt und gesellschaftlich an den Rand gedrängt.
Mit der Abschaffung dieses Amtes verliert die Erinnerungskultur eine ihrer institutionellen Anker. Man stelle sich vor: Die Bundesregierung würde das Amt des Antisemitismusbeauftragten streichen – still und leise und mit Verweis auf „interne Zuständigkeiten“. Der Aufschrei wäre zu Recht gewaltig. Und doch geschieht exakt das nun – nur eben bei einer Minderheit, der das gesellschaftliche Megafon fehlt.
Indirekt verwies der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma zuletzt genau darauf: Daimagüler habe „zu einem gesellschaftlichen und politischen Bewusstsein beigetragen, dass der Antiziganismus den gleichen historischen Hintergrund hat, wie der Antisemitismus“. Und weiter: „Es war Daimagüler ein wichtiges Anliegen, das Gedenken an den NS-Völkermord an den Sinti und Roma in das nationale und historische Gedächtnis der Bundesrepublik zu verankern.“ In der neuen Bundesregierung gibt es dafür keinen Beauftragten mehr, obwohl Daimagüler noch im März gewarnt hatte, dass Beauftragte „Themen auf die politische Agenda setzen, die sonst untergehen“.
„Die Streichung dieses Amtes ist kein bloßer Verwaltungsakt. Sie ist ein politisches Statement.“
Die Streichung dieses Amtes ist kein bloßer Verwaltungsakt. Sie ist ein politisches Statement. Eines, das sagt: Eure Geschichte ist uns lästig. Eure Gegenwart ist uns gleichgültig. Und eure Zukunft – die dürft ihr bitte allein gestalten. Es ist nicht nur ein Rückschritt. Es ist ein offener Rückzug aus der Verantwortung. Deutschland schafft Gedenken ab.
Daimagüler beschönigte nichts, er benannte die Probleme mit Klarheit, Nachdruck und schmerzhaft. Bei einer Gedenkveranstaltung in Bergen-Belsen vor zwei Jahren sagte Daimagüler: „Wenn der ermordeten Sinti und Roma gedacht wird, ist oft ein Stück Verlogenheit im Spiel. Da werden die Toten geachtet und am nächsten Tag die Lebenden verachtet.“
Dem ist nichts hinzuzufügen. Meinung
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