
Migranten aus dem Senegal
Im überfischten Meer auf überbesetzten Booten
In Senegals Fischerhafen M’bour werden die „pirogues“ genannten Holzboote gebaut – eigentlich für den Fischfang. Wenn das Meer aber leergefischt ist, nimmt das Boot Kurs auf die Kanaren und wird zum Hoffnungsträger – und zur tödlichen Falle.
Von Marc Hertel mit Saliou Gueye Mittwoch, 21.05.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 19.05.2025, 8:06 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
In M’bour, das den zweitgrößten Hafen des Landes und einen bedeutenden Fischmarkt beherbergt, lässt sich der gesamte Lebenszyklus einer pirogue nachzeichnen: der Bau aus Einbaum, die bunte Bemalung und Beflaggung (häufig mit Flaggen von für die meisten Senegalesen ‚unerreichbaren‘ Staaten Westeuropas), die alltäglichen Ausfahrten und Anlandungen in den Abend- und Morgenstunden, die Instandhaltung und Betankung – sowie eben auch jene klandestinen Abfahrten zur Migration nach Europa.
Die pirogues werden für die küstennahe Fischerei hergestellt und verbleiben – je nach Größe – zwei bis acht Tage auf dem Meer, wo die Fischer parallel zur Küstenlinie nach Fang suchen. Die Boote sind ausgestattet mit Motorantrieb, Fangnetzen, Eis, Aufbewahrungsboxen und den für die Nacht wichtigen Laternen. Gearbeitet wird häufig in Familienverbünden. Im Senegal sind etwa 16 Prozent der gut 15 Millionen Einwohnenden von der Fischerei und dem fischverarbeitenden Sektor abhängig.
Das Gespräch mit einem Pirogue-Maler am Hafen von M’bour führt schnell zum erschöpften Fischbestand: „Es gibt keinen Fisch mehr“, kommentiert er und zeigt auf seinen Fischer-Kumpel, der den Weg vom Strand aufsteigt und heute nicht auf das Meer rausfahren wird. Neben der Bedrohung des Fischbestands durch steigende Meerestemperaturen und destabilisierte Ökosysteme verweisen sowohl die Betroffenen vor Ort als auch Forschende auf die Überfischung durch große internationale Fangflotten.
Überfischung durch Fangflotten
Die industrielle Fischerei bedroht die Existenz der lokalen handwerklichen Fischer mit ihren pirogues. Der 24-jährige Cheikh, der die pirogue der Familie koordiniert, spricht über die Schwierigkeiten seiner Zunft: „Früher konnte man bereits nach 30 Kilometern anfangen zu fischen. Heute müssen wir mehr als 100 Kilometer absuchen, weil die großen Boote das Meer fast leergefischt haben. Manche fahren noch raus, andere bleiben lieber an Land. Da für die 100 Kilometer mehr Treibstoff erforderlich ist, wollen sie verhindern, dass sie ohne großen Fang heimkommen und dann nicht einmal die Unkosten decken können. Das Überleben in der Fischerei wird immer schwieriger.“
Bis zum 17.11.2024 waren insgesamt 18 spanische und französische Schiffe in den vom senegalesischen Staat kontrollierten Gewässern (sog. Küstenmeer und Ausschließliche Wirtschaftszone) unterwegs. An diesem Tag lief das vorerst letzte Fischereiabkommen zwischen der EU und dem Senegal aus (Accord de Partenariat dans le Domaine de la Pêche durable, APPD). Damit ist europäischen Flotten der Fang in besagten Gewässern nun nicht mehr erlaubt. Die EU begründet die Nicht-Verlängerung des Abkommens mit Nachlässigkeiten Senegals bei der Bekämpfung illegaler Fischerei (etwa mit nicht registrierten Booten). Der senegalesische Premierminister Ousmane Sonko hingegen betont, dass seine Regierung keine Abkommen mehr unterzeichne, die zur Verarmung der senegalesischen Fischer führten.
Aufbruch als Protest-Bewegung
Für viele Fischer bleibt indes vorerst der Kampf um ein ausreichendes Auskommen. Und so wird die Überfahrt auf die Kanaren – an die EU-Außengrenze – zur verbreiteten Alternative. Nicht nur für Fischer, sondern auch für viele junge Senegalesen außerhalb der Küstenregion, die mangels ökonomischer Perspektiven im eigenen Land der kollektiven Imagination eines besseren Lebens in Europa folgen. Diese Aussicht wird nicht selten durch bereits ausgewanderte große Brüder bestärkt.
Die durch europäische Fangflotten verschärfte Überfischung zeigt beispielhaft, wie fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten für die junge Generation durch anhaltende ökonomische Aktivitäten ehemaliger Kolonialmächte im Land strukturell mitverursacht werden. Das Aufbrechen der pirogues in Richtung Europa kann so auch als Protest und Widerstand gegen koloniale Abhängigkeiten verstanden werden.
Umwidmung der pirogues für die Migration
Für die Bootsmigration treten die angehenden, fast ausschließlich männlichen Migranten über informelle Netzwerke in Kontakt mit Schleppern (passeurs), die gegen Bezahlung die Abfahrt organisieren. In der Nacht und bei günstigen Wetterkonditionen werden die Migrierenden dann auf kleine pirogues aufgeteilt und aufs Meer hinausgefahren, wo eine größere pirogue wartet und die Menschen aufsammelt. So soll ein Aufgreifen der Boote und das Zurückschicken der Migrierenden durch die senegalesische Küstenwache oder die in der Region patrouillierende spanische Guardia Civil verhindert werden. Die Migrierenden realisieren erst beim Umstieg auf das größere Boot, wie viele Insassen tatsächlich mit ihnen die mehrwöchige Fahrt antreten. Mit etwa 150 Menschen sind es meist deutlich mehr als die im Voraus durch die Schlepper genannte Zahl.
So starten jene pirogues gen Europa, die Tage zuvor noch in ihrer ‚normalen‘ Funktion als Fischerboote genutzt wurden. Die Schlepper bleiben an Land zurück und beauftragen Fischer mit der Steuerung der Boote. Die Migrationsforscherinnen Sarah Walker und Elena Giacomelli resümieren in einem Beitrag zur Mobilität senegalesischer Fischer-Communities treffend:
„The owners of pirogues, in the absence of actual fish, use their skills at sea to earn income and become ‘fishers of men’“ (Walker, Giacomelli, 2024, S. 962). Unterschiedliche Mobilitätsdimensionen verschränken sich also in der pirogue: Die Einschränkung der Alltagsmobilität als Fischer durch erschöpfte Fischbestände treibt junge Senegalesen zur internationalen Mobilität – der ‚irregulären‘ Migration nach Europa. Als einfache Insassen oder gar Kapitäne – fishermen werden so zu fishers of men.
Die lebensgefährliche Atlantik-Überfahrt
Die pirogue-Überfahrt von der senegalesischen Küste auf die Kanaren kostet pro Person zwischen 1.000 und 1.500 Euro. Zum Vergleich: Der Preis für ein Flugticket mit der Airline Binter Canarias von Dakar nach Gran Canaria beginnt bei etwa 200 Euro. Zur Mitreise wäre allerdings ein Schengen-Visum nötig – das dem Großteil der Senegalesen aufgrund der restriktiven Visa-Politik der EU verwehrt bleibt. So bleiben vielen nur irreguläre Migrationsrouten: entweder durch die Sahara mit anschließender Überquerung des Mittelmeers oder über den Atlantik auf die Kanaren. Abfahrtsorte der Atlantikroute befinden sich nicht nur an der senegalesischen Küste, sondern auch in Gambia, Mauretanien und Marokko.
Im Jahr 2023 kamen laut spanischem Innenministerium 39.910 irreguläre Migrierende in 610 Booten auf den Kanaren an. Die NGO Caminando Fronteras dokumentiert für dasselbe Jahr 6.007 Todesfälle auf der Atlantikroute. Der in M‘bour beobachtbare Lebenszyklus einer pirogue endet also nicht selten mitten auf dem Atlantik oder vor der Küste der Kanaren. Er wird letal für seine Insassen. Und so ist die dokumentierte Kontinuität untergehender pirogues auf dem Atlantik in letzter Instanz auch ein von der EU und ihren Mitgliedsstaaten gebilligtes Hilfsmittel, um – wie es immer wieder heißt – die „illegale Migration zu begrenzen“. (mig)
Aktuell AuslandQuellen
- BBC News Afrique (2024): Ce que l’on sait du non-renouvellement de l’accord de pêche entre le Sénégal et l’UE. [05.05.2025].
- Caminando Fronteras (2023): Monitoreo Derecho a la Vida 2023. [05.05.2025].
- Ministerio del Interior (o.J.): Inmigración irregular 2024. Datos acumulados del 1 enero al 31 de deciembre. [05.05.2025].
- Walker, S. & E. Giacomelli (2024): Encountering mobility (in)justice through the lived experiences of fishing communities in Dakar and Saint Louis, Senegal. In: Mobilities 19 (6), 955-971.
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Bundestag Dobrindts Politikwechsel an den Grenzen in der Kritik
- „NSDABI – Verbrennt den Duden“ Ermittlungen nach Eklat um Abi-Motto an Gießener Schule
- Sachsen-Anhalt Vereint in der Wut auf den Staat
- Anleitung Kampf gegen Rechtsextremismus? So geht’s
- „Schwarze müssen aussterben“ Sachsen: Rechtsextremismus ist Alltag an Schulen
- Asylpolitik Merz: Italienisches Albanien-Modell eine Option für…