Chris Reiter, Journalist, Buchautor, Autor, Bloomberg, Totally kaputt, MiGAZIN
Chris Reiter © privat, MiG

Wir sind das Volk!

Es ist Zeit, laut zu werden

In den späten 1980er Jahren half der Slogan „Wir sind das Volk!“, die Ostdeutschen in ihrem Kampf für die Freiheit zu mobilisieren. Die Zeit ist jetzt eine andere. Das deutsche Volk – das ganze Volk – muss seine Stimme erheben.

Von und Dienstag, 15.04.2025, 12:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 15.04.2025, 12:12 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Noch bevor Friedrich Merz Kanzler wird, hat er sich ein Loch gegraben. In den Umfragen liegt die AfD gleichauf mit der CDU/CSU, und obwohl keine Wahlen vor der Tür stehen, spiegelt dies die Frustration in der Bevölkerung wider und bedeutet, dass Merz und seine voraussichtliche Koalition mit den Sozialdemokraten bereits mit Gegenwind rechnen müssen. Dies birgt die Gefahr einer weiteren ineffektiven und zänkischen Regierung, während die geopolitische Landschaft, die Republik zu seiner Exportstärke verholfen hat, im Gefolge von Donald Trumps Zöllen zerbröckelt.

Unser Land kann sich diese Art von politischem Unbehagen nicht leisten. Und es braucht die Gesellschaft, die den Ton angeben und das Land in die richtige Richtung lenken. Aber welche Richtung ist das?

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Eines der am meisten übersehenen Probleme hierzulande ist ein unterentwickeltes Identitätsgefühl. Die Grundlagen des Nachkriegsdeutschlands warender gemeinsame Wohlstand und die Tatsache, keine Nazis mehr zu sein. Um ehrlich zu sein, ist beides nicht mehr gegeben.

Die Wirtschaft ist in zwei aufeinander folgenden Jahren geschrumpft, und der Einbruch des Welthandels wird eine Erholung noch schwieriger machen. Gleichzeitig wollen die Konservativen die Sozialhilfeempfänger auspressen, während sie eine Vermögenssteuer blockieren und damit das untergraben, was vom sozialen Zusammenhalt noch übrig ist. Das nationale Wirtschaftsmodell ist kaputt und muss neu ausgerichtet werden.

„In der Zwischenzeit riskiert die Bundesrepublik weiterhin Menschenrechtsverletzungen.“

In der Zwischenzeit riskiert die Bundesrepublik weiterhin Menschenrechtsverletzungen, indem es hart gegen palästinensische Demonstranten vorgeht und Israel im Namen seiner Staatsräson blind unterstützt, obwohl es Bedenken wegen des Völkermords in Gaza gibt. Während der Mainstream versucht, Deutschlands Selbstbild als post-Nazi zu rechtfertigen, lassen nativistische Kräfte in der AfD und darüber hinaus den Blut-und-Boden-Nationalismus wieder aufleben.

Info: In ihrem neuen Buch „Totally Kaputt?“ werfen Chris Reiter und Will Wilkes einen schonungslosen Blick auf Deutschlands Abstieg – und auf das zentrale Versäumnis, eine positive, inklusive nationale Identität zu schaffen. Ohne ein modernes Wir-Gefühl ist die Gesellschaft anfällig für Spaltung, Populismus und politische Lähmung. Reiter und Wilkes zeigen, wie das fehlende Selbstverständnis im Innersten der Republik schleichend zum Systemfehler wurde. Sie analysieren die tiefen Ursachen der aktuellen Krise. Ein Buch für alle, die verstehen wollen, warum Deutschland wankt – und was es braucht, um wieder neue Wege zu finden.

Totally kaputt?: Wie Deutschland sich selbst zerlegt“ – Piper Verlag, gebundene Ausgabe, 352 Seiten, deutsch, ISBN: 349207328X

Wenn unser Land also eine tiefere Krise und seine eigene Version der Trump’schen Dystopie vermeiden will, braucht es eine neue Idee davon, was es ist und wohin es will. Es liegt an den Bürger:innen, dieses Gefühl der nationalen Solidarität zu entwickeln. Die politische Klasse und die Wirtschaftselite sind zu bequem oder zu ahnungslos, um dies zu erreichen.

„Jeder, der hierher zieht, weiß, dass die Bundesrepublik kein einladender Ort für Fremde ist.“

Migranten wie wir (Chris kommt aus den USA und Will aus Großbritannien) spielen eine entscheidende Rolle, weil wir andere Ansichten und Perspektiven bieten und die Schwächen des Gemeinschaftsgefühls erkennen können, das die einheimische Bevölkerung selbstverständlich hält.

Jeder, der hierherzieht, weiß, dass die Bundesrepublik kein einladender Ort für Fremde ist. Es gibt nur wenige Möglichkeiten, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln, aber das muss nicht so sein. Es gibt relativ einfache Möglichkeiten, die Vorstellung davon, was es bedeutet, Deutscher zu sein, zu öffnen und ein Gefühl des Nationalstolzes zu entwickeln, das zur Überwindung der Krise, in der sich das Land befindet, notwendig sein wird.

Letztendlich wird ein Aufschwung politische Maßnahmen erfordern, um die Ungleichheit zu verringern und die Wirtschaft voranzubringen. Aber die Bevölkerung muss das Tempo vorgeben und eine Kraft für positive Veränderungen sein. Für Migranten bedeutet das, dass wir die deutsche Identität für uns beanspruchen und das Feld nicht den Nationalisten überlassen, die den Ton angeben und Spaltung zeigen.

Es gibt keinen Grund, sich zu verstecken. Von den visionären türkischstämmigen Gründern von BioNTech, die den Erfindergeist lebendig halten, bis hin zu Tekin Nasikkol, einem Gewerkschaftsführer, der sich gegen die Deindustrialisierung wehrt, und der in Sengelese geborene Karamba Diaby, der mehr als ein Jahrzehnt lang Halle im Bundestag vertrat. Migranten haben jedes Recht, eine führende Rolle bei der Stärkung der nationalen Gemeinschaft zu spielen. Das wird nicht leicht sein. Aber es ist die Art von Mut, die unsere Wahlheimat so dringend braucht.

Lass uns also aufwachen und den Wandel herbeiführen, den wir in Deutschland sehen wollen. Wir sind alle das Volk!

  Meinung

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