Joel Schülin, Architekt, Urbanist, Visual Researcher, MiGAZIN, Kolumne
Joel Schülin, Architekt und Visual Researcher © MiG

Brandmuster

Stadt, Rand, Frust

Am 24. November 2024 zündet ein Bewohner der Coswiger Gemeinschaftsunterkunft in Sachsen-Anhalt sein Zimmer an. Er kommt wegen versuchten Mordes in Haft. Eine Kontextualisierung.

Von Sonntag, 15.12.2024, 10:50 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 15.12.2024, 10:50 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Brand in einer Geflüchtetenunterkunft im anhaltischen Coswig. 17 Verletzte, 20.000 Euro Schaden. Ein 24-jähriger Verdächtiger, ein Bewohner der Unterkunft, sitzt in Haft. Er wird wegen versuchten Mordes angeklagt. Das Urteil ist publik, der Kontext jedoch nicht.

Ich rufe den sachsen-anhaltischen Flüchtlingsrat an. Im Gespräch über den Brandvorfall in Coswig wird ziemlich schnell deutlich, wie wichtig die Betrachtung dieses Kontextes ist.

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In der Kleinstadt leben knapp 11.500 Menschen. Bewohner berichten, dass die Gemeinschaftsunterkunft weit ab vom Schuss liegt – es gibt keinen Bus. Wege zum Einkaufen, in die Stadt, in die Gesellschaft müssen zu Fuß zurückgelegt werden. Soziale Kontakte erschweren sich durch die fehlende Anbindung immens.

Die Unterkunft selbst befindet sich in einem fünfgeschossigen, schlichten Plattenbau. Es ist der letzte Bau im Coswiger Industriegebiet, kurz vor dem Wald. Die jahrzehntelange Witterung hat die Fassade grau meliert. Die Umgebung ist trist.

„In dem Gebäude [leben] ausschließlich Männer aus Syrien, Iran, Irak, Georgien und Somalia. Und das auf engstem Raum.“

Wie mir der Flüchtlingsrat erklärt, leben in dem Gebäude ausschließlich Männer aus Syrien, Iran, Irak, Georgien und Somalia. Und das auf engstem Raum. Die Kommunikation untereinander ist schwierig, vor allem dann, wenn Menschen mit unterschiedlichen Nationalitäten und Sprachkenntnissen ein Zimmer teilen.

Berichten von Bewohnern zufolge gibt es Personen, die seit über fünf Jahren in der Gemeinschaftsunterkunft leben, „mitten im Wald“, wie es immer wieder beschrieben wird. Psychologische Unterstützung gibt es wenig bis keine.

Weiterhin liegt dem Flüchtlingsrat die Information vor, dass Unternehmen in Coswig Menschen aus der Gemeinschaftsunterkunft nur ungern einstellen. Vorurteile wie „die Bewohner sind verrückt“ oder „sie beten den ganzen Tag“ und seien demnach arbeitsunfähig, zeichnen mit großer Wahrscheinlichkeit nur einen Bruchteil des Rassismus aus, der Geflüchteten in der Kleinstadt entgegengebracht wird.

„Es ist wie in einem Gefängnis.“

Schon im Januar 2016 gehen Bewohner der Coswiger Unterkunft als Protest gegen die alltäglichen und strukturellen Rassismen in den Hungerstreik. Der 18-jährige Mnene Mohammed spricht in einem Artikel der Mitteldeutschen Zeitung von nächtlichen Kontrollen, Ausgangssperren, Respektlosigkeit gegenüber dem Hab und Gut der Bewohner durch Sicherheitspersonal und Verbote, wie das Nutzen einer Kochplatte, um sich eigenes Essen zu kochen. „Es ist wie in einem Gefängnis“, berichtet er.

Mit jeder weiteren Information, die mir der Flüchtlingsrat über Coswig gibt, wird deutlicher, wie unzureichend die Medienlandschaft über den Fall berichtet. Gerade jetzt, wo der junge Mann wegen versuchten Mordes in Untersuchungshaft sitzt, sollten wir uns doch kritischer mit dem Warum der Inbrandsetzung beschäftigen und auch den Betroffenen und den Menschen und Institutionen zuhören, die sich mit dem Kontext auseinandersetzen und in ihm arbeiten und leben.

Nur dann können wir der Gefahr entgehen, Brände durch Bewohnende zu bagatellisieren beziehungsweise zu übergehen und anfangen, menschlich über die individuellen Erfahrungen von migrantisierten Menschen zu sprechen. Dazu gehört auch über Präventivmaßnahmen, wie die Unterbringung in dezentralen privaten Wohnungen und die Reduzierung der Aufenthaltsdauer bzw. Anzahl der Menschen in den Unterkünften zu diskutieren.

Ob es schlussendlich Frust war, der den 24-Jährigen dazu motivierte, die Möbel seines Zimmers anzuzünden, ist reine Spekulation. Klar ist jedoch, dass restriktive Asylgesetze, fehlende Mobilität, migrationsfeindliche Politik und das an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden einen leicht entflammbaren Raum erzeugt, in dem Brände zum Alltag werden. (mig) Meinung

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