Populismus ohne Tabus
Debatte über Asylpolitik nach Solingen-Anschlag geht weiter
Nach dem Anschlag in Solingen wird debattiert, was solche Taten künftig verhindern kann. Während einige das Thema „Islamismus“ in den Blick nehmen, dringt die Union auf strikte Begrenzung der Zuwanderung – ohne „Tabus“. Menschenrechtler warnen vor Populismus.
Dienstag, 27.08.2024, 18:03 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 27.08.2024, 18:03 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Nach dem mutmaßlich islamistischen Messeranschlag in Solingen verschärft die CDU weiter den Ton im Drängen nach einer strikten Begrenzung der Zuwanderung. „Die Priorität liegt nicht in der Rückführung, die Priorität liegt im Stopp des Zustroms“, sagte CDU-Chef Friedrich Merz am Dienstag nach einem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Merz forderte Scholz zu einer Zusammenarbeit für gesetzliche Änderungen auf, auf die der Kanzler öffentlich zunächst nicht reagierte. „Es gibt kein Tabu. Wir können über alle Regeln reden“, sagte Merz.
Seit dem Anschlag in Solingen, bei dem ein Messerstecher beim „Fest der Vielfalt“ zum 650. Stadtjubiläum Festbesucher attackiert und dabei drei Menschen getötet sowie acht verletzt hat, fordert die Union Konsequenzen vor allem in der Asylpolitik. Merz forderte konkrete Änderungen am Aufenthaltsgesetz, am Asylbewerberleistungsgesetz und schloss auch eine Änderung des Grundgesetzes nicht aus.
In Bezug auf völkerrechtliche Verpflichtungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention und die EU-Menschenrechtskonvention, die Zurückweisungen Schutzsuchender an der Grenze verbieten, sagte er, man müsse fragen, ob man all diese Regeln aufrechterhalten könne, obwohl man wisse, dass sie Probleme verursachten.
Wagenknecht: „Willkommenskultur ist vorbei“
Parteigründerin Sahra Wagenknecht schlug ähnliche Töne an und forderte von Scholz eine öffentliche Abkehr von der Flüchtlingspolitik seiner Vorgängerin Angela Merkel (CDU). „Der Bundeskanzler sollte das Stoppsignal an die Welt senden: Die Willkommenskultur ist vorbei. Wir schaffen es nicht. Macht Euch nicht auf den Weg!“, sagte die Vorsitzende des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) der Deutschen Presse-Agentur.
Wagenknecht verlangte eine „Zeitenwende in der Flüchtlingspolitik“ und legte dazu einen Sechs-Punkte-Katalog vor. Darin heißt es, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) müsse zurücktreten. Zudem wiederholt die BSW-Chefin die Forderung, abgelehnten Asylbewerbern nach einer kurzen Übergangsfrist alle Leistungen zu streichen. Das Bundesverfassungsgericht hat Einschnitten bei Leistungen für Asylbewerber allerdings in mehreren Urteilen enge Grenzen gesetzt.
Wagenknecht vertritt seit langem eine strikte Linie in der Migrationspolitik. Dies war ein Grund für ihren Bruch mit der Linken im vergangenen Herbst. Sie bezeichnet die dänische Linie in der Flüchtlingspolitik als Vorbild.
Debatte auch in der Bundesregierung
Auch in der Bundesregierung wird über die Flüchtlingspolitik diskutiert, eine Änderung des Grundgesetzes oder Abschied von der EU-Menschenrechtskonvention wurde bislang dort aber ausgeschlossen. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) kritisierte im „Morgenmagazin“ der ARD, dass bei Zehntausenden Dublin-Fällen, in denen ein anderer europäischer Staat für das Asylverfahren zuständig ist, die Abschiebung scheitere. Der Staat müsse konsequenter durchgreifen, sagte er.
Von fast 75.000 gestellten Übernahmeersuchen aus Deutschland wurden im vergangenen Jahr laut Bundesinnenministerium rund 22.500 abgelehnt, knapp 56.000 bewilligt. Nur rund 5.000 Überstellungen fanden tatsächlich statt.
FDP gegen Leistungen für Ausreisepflichtige
Der Anschlag in Solingen entfacht auch eine Debatte über Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber. Für Ausreisepflichtige solle es „keinerlei Sozialleistungen“ mehr geben, sagte der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr dem Boulevardblatt „Bild“. FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle bekräftigte im Magazin „Stern“: „Wenn jemand nicht hierbleiben darf, darf er auch keine Sozialleistungen bekommen.“ Wie das konkret umgesetzt werden soll, ließen beide offen.
Auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst sprach sich für eine Überprüfung der Leistungen für abgelehnte Asylbewerber aus. „Ich bin schon lange dafür, dass wir unseren Katalog von Sozialleistungen überprüfen und an die Regeln anderer EU-Länder anpassen“, sagte der CDU-Politiker dem „Stern“.
Asyldebatte auch in Ländern
Solingen befeuert auch in Bundesländern, in denen Landtagswahlen bevorstehen, eine Asyldebatte. Dagegen wehrt sich der Fraktionsvorsitzende der Linken im Brandenburger Landtag, Sebastian Walter. Es sei eine Debatte über Radikalisierung und über einen Angriff auf die Demokratie. „Wir müssen dafür sorgen, dass Integration stattfindet“, sagte Walter. Die Diskussionen über Abschiebungen, Waffenlängen, Waffenverbotszonen seien „tagesaktuelle Symbolpolitik“, ergänzte er. Durch Waffenverbotszonen ließe sich kein Verbrecher von einem Verbrechen abhalten.
Die Grünen-Spitzenkandidatin für die Brandenburger Landtagswahl am 22. September, Antje Töpfer, sagte, es sei nun wichtig, sich nicht gegenseitig im „Populismus zu überbieten“. Man müsse nach „wirksamen und vernünftigen“ Lösungen auf Basis des Grundgesetzes suchen. Ihr Fraktionskollege Benjamin Raschke bekräftigte die Forderung der Grünen nach einer Verschärfung des Waffenrechts.
Flüchtlingsrat warnt, Polizei ermittelt
Der Flüchtlingsrat NRW forderte von Politikern mehr Sachlichkeit. Die Tat eines Einzelnen werde dafür genutzt, um allgemein Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen, sagte Geschäftsführerin Birgit Naujoks. Dabei handele es sich bei ihnen oft um Menschen, die selbst vor „islamistischer“ Gewalt geflohen seien. Wenn eine Gruppe insgesamt als Gefahr angesehen werde, sinke auch ihre Akzeptanz in der Bevölkerung. Der Flüchtlingsrat in Brandenburg warnte ebenfalls vor einer Debatte auf dem Rücken von Geflüchteten. „Wir kriegen ganz viele Anrufe von Geflüchteten, die verunsichert sind, wenn sie sich die Nachrichten anschauen“, sagte ein Sprecher des Rates dem rbb.
Wie die Polizei mitteilte, werden derzeit Ermittlungen wegen rassistischer Parolen auf Kundgebungen mit Bezug zu dem Anschlag in Solingen ermittelt. Zudem habe ein Teilnehmer bei den Versammlungen am Montagabend in der Innenstadt den Hitlergruß gezeigt, teilte die Polizei mit.
Kampf gegen „Islamismus“
Andere dringen derweil auf mehr Anstrengungen im Kampf gegen „Islamismus“. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD) verlangte ein „starkes Präventions- und Frühwarnsystem“. Dazu gehörten mehr Aufklärung, mehr Beratung sowie „mehr Systeme, die früh erkennen, wenn jemand radikalisiert wird“. Einen besonderen Blick forderte sie dabei auf Messenger-Dienste und soziale Medien.
Die Grünen-Politikerin Lamya Kaddor sagte im Sender Phoenix, man solle „soziale Arbeit, so wie wir es im realen Leben kennen, zunehmend ins Netz verlagern“. Laut aktuellem Verfassungsschutzbericht und auch der „Beratungsstelle Radikalisierung“ spielten soziale Medien für „islamistische“ Propaganda eine wichtige Rolle.
Wissenschaftler warnt vor Wahlkampf-Getöse
Der Osnabrücker Islamwissenschaftler Michael Kiefer sagte dem „Evangelischen Pressedienst“, bei den Forderungen etwa nach schnelleren Abschiebungen und einer Schließung der Grenzen stehe offensichtlich der Wahlkampf im Vordergrund und nicht das Ziel, solche Taten zu verhindern. „Das könnte sogar gefährlich werden, wenn darüber versäumt wird, tatsächlich notwendige Maßnahmen zu ergreifen.“
Kiefer sprach sich für eine bessere psychosoziale Betreuung in Flüchtlingsunterkünften aus, um Radikalisierung vorzubeugen. Zusätzlich sollten die Bewohner dafür sensibilisiert werden, problematische Entwicklungen den Behörden zu melden, forderte er. Dem mutmaßlichen Attentäter von Solingen, Issa Al H., wird die Mitgliedschaft in der islamistischen Terrororganisation IS vorgeworfen. (epd/dpa/mig) Leitartikel Politik
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