Der Krieg in Zahlen
Sechs Monate Gaza-Krieg und kein Ende in Sicht
Es ist der längste und blutigste Krieg Israels seit dem Unabhängigkeitskrieg 1948. Die Zahl der Toten im Gazastreifen ist so hoch wie noch nie. Die Kriegsziele Israels sind bisher unerreicht, eine Befriedung der Region nicht in Sicht. Menschenrechtler schlagen Alarm. Israel immer stärker in der Kritik.
Von Sara Lemel und Lars Nicolaysen Sonntag, 07.04.2024, 16:42 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 07.04.2024, 16:51 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Die Bilanz des seit sechs Monaten wütenden Gaza-Krieges ist verheerend. Mehr als 33.000 Menschen wurden nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher im Gazastreifen getötet und knapp 76.000 weitere verletzt. Die Behörde unterscheidet dabei nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern. Nach israelischen Angaben wurden im Gazastreifen rund 12.000 Terroristen getötet, das wären mehr als ein Drittel der Toten. Die Angaben beider Konfliktparteien lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen.
Auslöser des Krieges
Auslöser des Krieges war der Terrorangriff der islamistischen Hamas auf das israelische Grenzgebiet am 7. Oktober vergangenen Jahres, bei dem mehr als 1.200 Menschen getötet wurden. Es war das schlimmste Massaker in der Geschichte des Landes; einschließlich Leichenschändungen und Vergewaltigungen. Außerdem verschleppten Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Organisationen mehr als 250 Menschen in den Gazastreifen. Bis heute werden dort nach israelischen Informationen noch 133 Menschen festgehalten, davon sollen aber höchstens noch knapp hundert am Leben sein.
Auf der israelischen Seite wurden seit dem 7. Oktober insgesamt mehr als 1.500 Menschen getötet, darunter 600 Soldaten. Mehr als 15.000 erlitten Verletzungen.
Verheerende Reaktion Israels im Gazastreifen
Israel reagierte mit massiven Luftangriffen und einer zerstörerischen Bodenoffensive im Gazastreifen. Rund 300.000 israelische Reservisten wurden zu Beginn des Krieges einberufen.
Mehr als 1,7 Millionen der insgesamt 2,2 Millionen Einwohner des Küstenstreifens wurden nach UN-Angaben seitdem zu Binnenvertriebenen. Das Gebiet am Mittelmeer, das flächenmäßig etwa so groß ist wie München, liegt weitgehend in Schutt und Asche. Unter den mehr als 33.000 Toten sind auch Sanitäter, Journalisten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.
Alle Gaza-Einwohner sind nach UN-Angaben von „hoher, akuter Ernährungsunsicherheit“, die Hälfte von ihnen sogar von „katastrophaler Ernährungsunsicherheit“ betroffen. Hilfsorganisationen warfen Israel vor, die Hilfslieferungen zu behindern. Israel wies dies zurück und sagte, das Problem liege vielmehr im Gazastreifen, weil die Akteure dort offenbar nicht in der Lage seien, mehr Hilfsgüter zu verteilen.
Nach Angaben der israelischen Cogat-Behörde wurden seit Beginn des Krieges mehr als 388.850 Tonnen humanitärer Hilfsgüter in den Gazastreifen transportiert, in mehr als 20.700 Lastwagen.
Krieg verursachte Schäden in zweistelliger Milliardenhöhe
Der Gaza-Krieg hat einer Schätzung der Weltbank und der Vereinten Nationen zufolge einen Sachschaden in zweistelliger Milliardenhöhe verursacht. Die Institutionen bezifferten den Schaden an der kritischen Infrastruktur im Gazastreifen mit rund 18,5 Milliarden US-Dollar (rund 17,2 Milliarden Euro). Dies entspricht den Angaben zufolge 97 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Gazastreifen und Westjordanland im Jahr 2022.
Dem Bericht zufolge machten Schäden an Wohngebäuden 72 Prozent des Gesamtschadens aus. Auch im israelischen Grenzgebiet zum Gazastreifen sowie zum Libanon hat der Krieg schwere Verwüstungen angerichtet.
Dauergefechte an der Grenze zum Libanon
Seit Kriegsbeginn hat die sogenannte „Achse des Widerstands“ – Iran und seine nicht staatlichen Verbündeten im Libanon, Irak und Jemen sowie in Syrien – Israel in Kämpfe an mehreren Fronten verwickelt. Der Iran hat nach einem mutmaßlich israelischen Luftangriff auf ein Gebäude der iranischen Botschaft in Syriens Hauptstadt Damaskus mit mehreren Toten Vergeltung angekündigt.
Seit Beginn des Gaza-Kriegs kommt es bereits täglich zu Konfrontationen zwischen Israels Armee und militanten libanesischen Gruppierungen wie etwa der Hisbollah. Bei Angriffen auf den Norden Israels wurden bislang 18 Menschen getötet – zehn Soldaten und acht Zivilisten. Im Libanon wurden nach Medienberichten 279 Kämpfer getötet, die große Mehrheit davon aus den Reihen der Schiitenmiliz Hisbollah. Außerdem seien 68 Zivilisten bei Angriffen ums Leben gekommen.
43 israelische Wohnorte an der Grenze zum Libanon wurden evakuiert. Mehr als 60.000 Israelis und mehr als 90.000 Libanesen mussten angesichts der fortwährenden Gefechte das jeweilige Grenzgebiet verlassen. Nach israelischen Angaben wurden mehr als 3.100 Raketen von Syrien und Libanon aus auf den israelischen Norden geschossen.
Attacken auch aus dem Jemen
Die aus dem Jemen agierenden Huthi-Miliz hat nach Informationen des israelischen Instituts für Nationale Sicherheit (INSS)seit Beginn des Gaza-Kriegs 63 Angriffe auf Israel verübt. 159 Mal habe sie zudem Schiffe im Roten Meer attackiert. Die Miliz will so ein Ende der israelischen Militäreinsätze im Gazastreifen erzwingen.
Gewaltanstieg auch im Westjordanland
Während des Gaza-Kriegs hat sich die Sicherheitslage auch in dem von Israel besetzten Westjordanland noch massiv verschlechtert. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Ramallah wurden in dem Zeitraum 438 Palästinenser getötet – bei Militäreinsätzen Israels, Konfrontationen oder ihren eigenen Anschlägen. 19 Israelis wurden bei Anschlägen im Westjordanland oder Jerusalem getötet. Rund 3.700 Palästinenser wurden im Westjordanland festgenommen, 1.600 davon mutmaßliche Hamas-Mitglieder.
Kriegsziele sind weiter unerreicht
Erklärte Ziele des Gaza-Kriegs sind laut Israel die Zerstörung der Führung sowie der militärischen Fähigkeiten der Hamas sowie die Freilassung der Geiseln. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu versprach mehrfach den „totalen Sieg“ über die Hamas. Diese Ziele sind allerdings auch nach sechs Monaten verheerenden Krieges nicht erfüllt.
Trotz massiver internationaler Warnungen plant Israel einen militärischen Einsatz in der Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten, wo sich mehr als eine Million Flüchtlinge drängen. Israel will dort die letzten Bataillone der Hamas zerschlagen, um ein Wiedererstarken der Terrororganisation nach dem Krieg zu verhindern.
Auch die Raketenangriffe auf israelische Grenzorte zum Gazastreifen konnten bislang nicht vollends unterbunden werden. Insgesamt sind seit dem 7. Oktober nach Militärangaben mehr als 14.000 Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert worden. Mehr als 9.000 davon seien auf israelischem Gebiet abgefangen worden oder eingeschlagen.
Strategie der harten Linie bisher gescheitert
Die Hamas kämpft unter anderem aus einem Hunderte Kilometer langen, weitverzweigten Tunnelsystem unter dem Gazastreifen gegen die israelische Armee. Auch nach sechs Monaten ist es nicht gelungen, die Hamas-Führung – an der Spitze Jihia al-Sinwar – zu fassen, die in Tunneln im Süden des Gazastreifens vermutet wird. Die Annahme ist, dass Sinwar sich zu seinem eigenen Schutz mit Geiseln umgeben hat und ein Einsatz gegen ihn daher extrem riskant wäre.
„Israel hat militärischen Druck zu verschiedenen Zeitpunkten Verhandlungen vorgezogen, unter der Prämisse, dass je mehr die Hamas in die Ecke gedrängt wird, desto flexibler ihre Verhandlungspositionen werden“, schrieb ein Kommentator der Zeitung „Israel Hajom“ am Sonntag. „Die harte Linie der Hamas in den vergangenen Monaten zeigt jedoch, dass dieser Ansatz gescheitert ist.“
Israelische Regierung zunehmend unter Druck
Wegen seiner brutalen Kriegsführung ist Israel auf der Weltbühne zunehmend isoliert. Selbst Verbündete üben nun offen Kritik an Ministerpräsident Netanjahu. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien mehren sich Rufe nach einem Stopp der Waffenlieferungen an Israel. Gleichzeitig stehen Netanjahu und seine Regierung im eigenen Land unter wachsendem Druck. Kritiker werfen ihm vor, den Schutz der Gaza-Grenze vernachlässigt zu haben und die Interessen des Landes seinem politischen Überleben unterzuordnen.
Bei Massenprotesten am Samstagabend entfachten Demonstranten mehrere Feuer auf der Straße. Dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, wie Medien berichteten. Angehörige der Verschleppten werfen Netanjahu vor, einem Geisel-Deal im Wege zu stehen. Im Laufe einer einwöchigen Feuerpause Ende November hatte die Hamas 105 Geiseln freigelassen. Im Gegenzug entließ Israel 240 palästinensische Häftlinge aus seinen Gefängnissen. Knapp 100 der im Gazastreifen verbliebenen Geiseln dürften nach israelischen Schätzungen noch leben. Israel und die Hamas verhandeln seit Monaten – aber nicht direkt miteinander. Stattdessen treten die USA, Katar und Ägypten als Vermittler auf. Die Gespräche über eine Feuerpause und Freilassung der Geiseln stocken seit Wochen. Washington will einen Durchbruch erzwingen.
„Ärzte ohne Grenzen“: Arbeitssituation in Gaza „ein Albtraum“
Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ in Deutschland fordert einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand im Gaza-Streifen. Die Situation vor Ort sei „gelinde gesagt ein Albtraum“, sagte Geschäftsführer Christian Katzer am Samstag im WDR5-„Morgenecho“. Die Lage sei sehr angespannt. Bei einem israelischen Luftangriff Anfang der Woche waren sieben Mitarbeitende der Hilfsorganisation World Central Kitchen getötet worden.
Dieser Angriff sei kein Einzelfall. „Wir sehen immer wieder ganz klar Angriffe auf medizinische Einrichtungen“, betonte Katzer: „Seit Beginn des Krieges sind fast 200 Mitarbeitende von Hilfsorganisationen getötet worden, darunter auch fünf Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen.“ Entweder seien die Angriffe der israelischen Armee Absicht oder „rücksichtslose Inkompetenz“, kritisierte der Geschäftsführer. Denn mit allen Konfliktparteien sei abgesprochen, mit welchen Fahrzeugen Hilfsorganisationen unterwegs und wo sie tätig seien.
Bericht: USA drängen Israel zu Zugeständnis
Wie das „Wall Street Journal“ am Samstag unter Berufung auf amerikanische, israelische und ägyptische Beamte berichtete, will die US-Regierung erreichen, dass Israel bei einer neuen Verhandlungsrunde der Vermittler in Kairo eine begrenzte Rückkehr von Zivilisten in den Norden des umkämpften Gazastreifens erlaubt.
Die von der Hamas geforderte Rückkehr der palästinensischen Zivilisten in den Norden des abgeriegelten Küstengebiets sei ein entscheidender Streitpunkt bei den Gesprächen, berichtete das „Wall Street Journal“. Israel sei bereit, die Rückkehr von täglich 2.000 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, in den Norden zuzulassen. Insgesamt bis zu 60.000 Palästinenser könnten nach einem von Israel als akzeptabel erachteten Vorschlag zurückkehren. Männer zwischen 18 und 50 Jahren wären davon aber ausgeschlossen.
Experten warnen vor Anarchie in Gaza
CNN zitierte am Samstag den Nahost-Experten Nathan Thrall in Jerusalem: „Israel kann sein erklärtes Ziel, die Hamas zu eliminieren, nicht erreichen, weil die Hamas ein integraler Bestandteil der palästinensischen Gesellschaft im Westjordanland und im Gazastreifen ist. Ihre Popularität hat in den vergangenen Monaten zugenommen. Nachdem Israel erklärt hat, dass es die Hamas im Norden besiegt hat, sieht man, dass jede Woche israelische Soldaten im Norden sterben“, sagte Thrall. Es sei offensichtlich, dass die Hamas auch nach dem Krieg existieren werde.
Höchstwahrscheinlich werde es zu einer unbefristeten israelischen Militärpräsenz in Gaza kommen, sagte Elgindy dem Sender. „Es wird so etwas wie einen Zusammenbruch von Recht und Ordnung und immer mehr Chaos geben. Wir werden Warlords, Banden und Clans sehen (…) Gaza ist zu einem Ort geworden, der nicht wirklich lebenswert ist“, wurde der Experte zitiert. Wenn es jemanden geben sollte, der glaubt, dass diese Situation den Israelis Sicherheit bringen werde, „dann ist das eine völlig wahnhafte Vorstellung“, sagte Elgindy. (dpa/epd/mig) Ausland Leitartikel
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