Hohes Frustpotenzial
Unterschiedlicher Umgang mit ukrainischen und anderen Geflüchteten
Ukrainische Geflüchtete sind rechtlich deutlich bessergestellt. Auch die gesellschaftliche Stimmung ist polarisiert. Das Diskriminierungsrisiko für Pädagogik und Soziale Arbeit ist hoch.
Von Andreas Foitzik und Lothar Wegner Mittwoch, 06.04.2022, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 07.04.2022, 5:45 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Ukrainische Geflüchtete erfahren umfassende Hilfe und eine rechtliche Sonderstellung in Deutschland. Die vielfältige staatliche und private Unterstützung ukrainischer Geflüchteter ist vorbildlich. Insbesondere ihre rechtliche Anerkennung gibt ihnen einen sicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland.
Damit sind sie deutlich bessergestellt im Vergleich zu anderen Geflüchtetengruppen, die nicht aus Europa kommen. Die zwar zugesagte, dann aber nur teilweise erfolgte unkomplizierte Aufnahme afghanischer Ortskräfte stellt hier nur die Spitze des Eisbergs dar. Unzählige Menschen, die vor Krieg und Vertreibung fliehen, suchen in Europa Schutz, einige sind an der belarussisch-polnischen Grenze erfroren, viele sind an dieser Grenze gescheitert und wurden Opfer von push-backs. Von den unzähligen Toten im Mittelmeer ganz zu schweigen.
Aber auch bei Geflüchteten aus der Ukraine gab es an der Grenze Racial Profiling. Während weiße Geflüchtete ungehindert passieren konnten, wurden Schwarze Geflüchtete aussortiert und aufgehalten.
„Bei Ukrainer:innen scheint nun plötzlich alles möglich. Und zwar schnell und relativ unbürokratisch. Helfer:innen, die sich seit langem um Verbesserungen der Situation der von ihnen betreuten Geflüchteten kümmern, und nicht oder nur mühsam vorangekommen sind, sind erstaunt – und manche auch rückblickend frustriert.“
Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Jugendhilfe betreut werden oder Schulen besuchen, aber auch Geflüchtete in Unterkünften erleben diese Ungleichbehandlung unmittelbar oder vermittelt über soziale Netzwerke. Während ihr rechtlicher Status häufig auf unsicherer Duldung basiert und ihre Familien nicht nachziehen können, scheint bei Ukrainer:innen nun plötzlich alles möglich. Und zwar schnell und relativ unbürokratisch. Auch ehrenamtliche Geflüchtetenhelfer:innen, die sich seit langem um Verbesserungen der Situation der von ihnen betreuten Geflüchteten kümmern, und nicht oder nur mühsam vorangekommen sind, sind erstaunt – und manche auch rückblickend frustriert.
Vorsicht Falle! Opfergruppenrankings …
Der Krieg gegen die Ukraine bringt wieder eine extreme Form von Gewalt nach Europa. Nicht, dass es nicht durchgängig schreckliche Kriege gab und gibt. Doch sind die Kriege in Syrien, Afghanistan, Jemen, Sudan immer mehr aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Auch in der pädagogischen und sozialarbeiterischen Praxis haben sie – wenn überhaupt – nur vorübergehend Aufmerksamkeit erlangt. Bei dem Thema Flucht hatte sich für viele in den letzten Jahren eher eine Routine eingestellt. Die staatliche Abschottungspolitik hat dazu beigetragen, dass immer weniger Menschen aus den Krisengebieten hier Zuflucht finden konnten.
Jetzt ist mit dem Krieg in der Ukraine auch die Betroffenheit wieder näher gerückt. Viele sind erschüttert, bei Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern zeigen sich Verunsicherung und Ängste. Damit entstehen auch für die pädagogische und sozialarbeiterische Arbeit Fragen und Herausforderungen.
„Dieses Ranking „bedroht“ nicht nur andere Geflüchtete. Viele weitere Menschen leben in Deutschland in prekären Verhältnissen, finden z.B. keinen angemessenen Wohnraum. Auch hier ist die Soziale Arbeit mit der Sorge konfrontiert, dass diese Menschen angesichts eines großen neu entstandenen Bedarfs in den Hintergrund rücken oder gar vergessen werden.“
Auf der einen Seite sind sie gefordert, den neuen vor dem Krieg geflohenen Familien eine solidarische Unterstützung zukommen zu lassen, und gleichzeitig müssen sie damit aus ihrer Professionsethik allen anderen Geflüchteten ebenfalls weiterhin eine angemessene Unterstützung zukommen zu lassen. Und dies angesichts einer gesellschaftlichen Situation, in der ein „Opfergruppen-Ranking“ den gesellschaftlichen Diskurs bestimmt. Dieses Ranking „bedroht“ nicht nur andere Geflüchtete. Viele weitere Menschen leben in Deutschland in prekären Verhältnissen, finden z.B. keinen angemessenen Wohnraum. Auch hier ist die Soziale Arbeit mit der Sorge konfrontiert, dass diese Menschen angesichts eines großen neu entstandenen Bedarfs in den Hintergrund rücken oder gar vergessen werden.
… schaffen Diskriminierungsrisiken
Soziale Arbeit und Pädagogik sind häufig gezwungen, den Mangel an eigenen Ressourcen zu verwalten. Diskriminierungsrisiken entstehen vor allem dort, wo knappe Ressourcen verteilt werden müssen. In Zeiten, in denen zu den üblichen und meist auch schon zu vielen Aufgaben, aufgrund von gesellschaftlichen Krisen noch einmal dringende Aufgaben dazu kommen, wie es aktuell in viele Menschen in der Sozialen Arbeit und Pädagogik erleben, wächst der Druck auf die Professionellen, zu entscheiden, wem sie wieviel Zeit, Aufmerksamkeit oder auch materielle Ressourcen zukommen lassen. Professionelle sind aufgefordert, diese Entscheidungen vor dem Hintergrund der jeweiligen Bedürfnislage des Einzelfalls heraus zu treffen. Einfacher ist es, hier nach Gruppen zu sortieren, denen mehr oder weniger Unterstützungsbedarf zugeschrieben wird. Gesellschaftliche Diskurse, die ein „Opfergruppenranking“ nahelegen, sind für die Soziale Arbeit und Pädagogik daher ein Diskriminierungsrisiko.
„Es gibt aber einen oft unausgesprochenen Subtext…. Dieser Subtext unterscheidet die Geflüchteten nach ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘, ‚europäischen‘ oder ’nicht europäischen‘ und christliche oder muslimischen Geflüchteten.„
Eine Begründung für eine „Privilegierung“ von ukrainischen Geflüchteten ist die aktuelle Not- und Krisensituation, die – das ist unbestritten! – alle Maßnahmen der Einreiseerleichterung wie der konkreten Hilfe rechtfertigt. Es gibt aber darunter einen oft unausgesprochenen Subtext, der die unterschiedliche staatliche Behandlung von Geflüchteten, aber auch eine unterschiedliche Unterstützung durch Soziale Arbeit oder auch durch Ehrenamtsgruppen verstärkt. Dieser Subtext unterscheidet die Geflüchteten nach „richtigen“ oder „falschen“, „europäischen“ oder „nicht europäischen“ und christliche oder muslimischen Geflüchteten. Und bereits nach wenigen Wochen unterscheidet er auch nach dem durchschnittlichen Bildungsgrad und der zu erwartenden Integrationschancen in den Arbeitsmarkt. Pointiert gesprochen: Vor 6 Jahren kamen potentielle Vergewaltiger, heute kommen potentielle Fachkräfte.
Dies wird verstärkt durch Racial Profiling an der europäisch-ukrainischen Grenze, das auch unter den Geflüchteten aus der Ukraine nochmals zwischen Schwarzen Menschen aus der Ukraine und „richtigen“ Ukrainer:innen unterscheidet.
Info: Dieser Beitrag ist eine Kooperation von MiGAZIN mit dem Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg, das unter dem Dach von adis e.V. Antidiskriminierung – Empowerment -Praxisentwicklung organsiert ist. Das Netzwerk versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen. Das Netzwerk informiert Interessierte in regelmäßigen Abständen von circa zwei Monaten per E-Mail-Newsletter über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen und Publikationen im Feld der Migrationspädagogik.
Vor diesem Hintergrund sind Soziale Arbeit und Pädagogik aufgefordert, diese Diskurse so zu reflektieren, dass sie die fachlichen Entscheidungen nicht beeinflussen. Dies nicht nur in der Verteilung von Aufmerksamkeit und Ressourcen, sondern auch bei der Moderation von Konflikten mit und unter verschiedenen Adressat:innengruppen. Zu Recht wehren sich Geflüchtete – auch gegenüber den Professionellen – gegen Doppelstandards, die zu Spaltungen und Konflikten in Unterkünften, Schulklassen oder Jugendhäusern führen können.
Abwertung und Ausgrenzung „russischer“ Jugendlicher
„Die Professionellen in pädagogischen und sozialarbeiterischen Handlungsfeldern müssen sich nicht nur in Bezug auf diese „Zweiklassengesellschaft“ von Geflüchteten so positionieren, dass sie sich nicht selbst in Gut-Böse-Denken verwickeln lässt.“
Aber die Professionellen in pädagogischen und sozialarbeiterischen Handlungsfeldern müssen sich nicht nur in Bezug auf diese „Zweiklassengesellschaft“ von Geflüchteten so positionieren, dass sie sich nicht selbst in Gut-Böse-Denken verwickeln lässt. Auch der Krieg selbst produziert sehr polarisierte Bilder von Tätern und Opfern und auch hier treffen beide „Gruppen“ in den Einrichtungen der Jugendhilfe oder der Schule aufeinander.
Es ist erstaunlich, wie schnell antirussische Klischees in den letzten Wochen reaktivierbar waren. Sie knüpfen an in Deutschland seit mindestens dem Zweiten Weltkrieg verankerte Vorurteile und negative Bilder über Russland und russische Menschen. Aktuell erleben Menschen, die irgendwie als „russisch“ identifiziert werden, diese Klischees, Zuschreibungen, Diskriminierungen und immer öfter auch gewaltvollen Übergriffe. Scharf kontrastiert werden dagegen Bilder von Menschen aus der Ukraine, die bis vor kurzem noch Zielscheibe derselben Projektionen waren. Soziale Arbeit und Pädagogik muss auch gegen diesen Diskurs eine allparteiliche Haltung entwickeln, die neben der Solidarität mit den Opfern des russischen Angriffskrieges auch Kindern und Jugendlichen ein parteiliches Angebot macht, die von diesen negativen Zuschreibungen und daraus resultierenden Anfeindungen betroffen sind.
„Wie kann ein angemessener Umgang mit Jugendlichen erfolgen, die diesen Angriffskrieg verteidigen? Die Fähigkeiten zur Konfliktmoderation, zu Deeskalation und Konfrontation sind erneut herausgefordert.“
Zugleich stellt sich die Frage nach Grenzziehung: Wie kann ein angemessener Umgang mit Jugendlichen erfolgen, die diesen Angriffskrieg verteidigen? Die Fähigkeiten zur Konfliktmoderation, zu Deeskalation und Konfrontation sind erneut herausgefordert. Für diese Herausforderungen brauchen Professionelle Räume der Reflexion. Dies gilt noch einmal in besonderer Weise für Professionelle, die selbst biografische oder familiäre Bezüge in die Ukraine oder Russland haben, oder so von anderen wahrgenommen werden.
War da was? Soziale Arbeit ist immer politisch!
Zum Schluss: Pädagogik und Soziale Arbeit muss die eigene Professionalität nicht nur in der Einzelfallarbeit gegen gesellschaftliche Erwartungen und gegebenenfalls auch gegen eigene Emotionen „verteidigen“. Gerade in Zeiten, in denen Professionelle von der Einzelfallarbeit „aufgefressen“ werden, müssen sie sich daran erinnern, dass sie sich in Vertretung der Interessen ihrer Adressat:innen auch politisch in die Diskurse einmischen müssen.
Info: Dieser Beitrag entstand auf der Grundlage einer Diskussion in der Tübinger Regionalgruppe des Netzwerks Rassismuskritische Migrationspädagogik.
Meinung
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