Rezension
Schreibt Euch!
Özlem Topçu, Tochter von Einwanderern aus der Türkei, und Richard C. Schneider, Mitglied einer Familie von Shoah-Überlebenden, schreiben sich ein Jahr lang Briefe, in denen sie sich über Persönliches und Politisches austauschen. Daraus ist das Buch „Wie hättet ihr uns denn gerne?“ entstanden. Alpay Yalçın hat es für MiGAZIN gelesen.
Von Alpay Yalçın Freitag, 11.03.2022, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 10.03.2022, 16:27 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Ist der Fernseher laut oder leise, während daneben das Familienleben tobt? Wie geht man mit Demenz in der Familie um? Wie ist das, wenn „einer von uns“ mal sichtbaren Erfolg hat oder eben eine Katastrophe auslöst? Wer ist „uns“? Und dann muss man fragen, wer sind „die“? Welchen Unterschied macht es, wenn man schon seit Generationen in derselben Welt- und Sprachgegend lebt, und auch dort stirbt, wo man geboren wurde, oder die Gräber von Familienmitgliedern weltweit verstreut sind? Und wenn man „die“ und „uns“ unter die Lupe nimmt, bleibt da wirklich noch ein Unterschied, wenn wir doch alle dieselbe planetare Geschichte erleben, passiv oder aktiv?
Özlem Topçu und Richard C. Schneider schreiben sich ein Jahr lang, von November 2020 bis November 2021, Briefe, in denen sie sich über Persönliches und Politisches austauschen. Beide sind Journalisten in gehobenen Positionen, das heißt, sie produzieren „nebenher“ mediale Produkte für eine Öffentlichkeit, die sich zudem in einer permanenten Krise befindet.
Topçu ist Tochter von Einwanderern aus der Türkei, Schneider, Mitglied einer Familie von Shoah-Überlebenden. Persönlichkeiten, die bis heute mit einem Fremdheitsgefühl kämpfen, wie sie schreiben. Die in ihrer Migrationsgeschichte die Brutalitäten der Exklusion und die Kuriositäten des Fremdseins in einer sich globalisierenden Welt hautnah erleben. So beginnt Özlem Topçu den Briefwechsel mit der Frage, ob man als Türkeistämmige/r „stolz“ auf die Herkunft der beiden türkeistämmigen Deutschen Biontech-WissenschaftlerInnen sein darf, und kann?
Fragen wir doch mal so. Sind Deutsche mit und ohne Migrationsgrund stolz auf die vielen Beiträge Deutscher WissenschaftlerInnen? Und was ist mit Albert Einstein? Sind Juden und Deutsche gleichermaßen stolz auf diese historische Persönlichkeit? Das Wort stolz überbrückt Haltungen, die vom vornehmen bis ins törichte reichen, von edel bis überheblich. Stolz kann man sein auf etwas, an dem man Anteil hat, an dem man mitgebaut hat, könnte man einwerfen. Stolz könnte man sein auf etwas, das sich nichts hat zuschulden kommen lassen, kritisch anfügen. Aber gibt es das? Waren Deutsche mit jüdischem Glauben nicht stolz auf ihr Eisernes Kreuz? Kann man „stolz“ geraubtes Essgeschirr zurückgeben? Stolz, Flüchtlinge aufnehmen? Kann man stolz sein auf die Aufnahme von Flüchtlingen, während man die Waffenlieferungen in deren Herkunftsländer nicht verhindert hat? Und wer ist schlussendlich dieses „man“?
Die beiden Journalisten und Briefschreiber treffen sich dort, wo Deutschsein als Teil der eigenen Biografie verstanden wird. Sie balgen sich fast schon über ihre wunderlichen „deutschen“ Verhaltensweisen, Selbstverständlichkeiten, und wie diese in den jeweiligen „Herkunftsländern“ offen zutage treten. Man spricht deutsch also. Man spricht deutsch als Mensch mit Migrationshintergrund. Özlem Topçu und Richard C. Schneider sprechen deutsch als Migrationsgeschichte und Mahnmal für die Shoah. Warnend, weil die politische Wirklichkeit in Militarismus, pandemische Apokalypse und weltpolitische Atomisierung abzudriften droht.
Eine gewisse Intimität erreicht der Briefaustausch, wenn es ums Familiäre geht, das zum einen durch die Migration aus der Türkei, zum anderen durch die apokalyptischen Entwicklungen im dritten Reich bestimmt ist. Beiden Autoren ist gemein, dass sie sich selbst ein Verhältnis zu ihrer Herkunft aufbauen. Türkei und Israel. Zwei Staaten, die, einst Militärpartner, heute nicht entfernter voneinander sein könnten und deren Völker und Gebiete einen regen historischen Austausch für sich in Anspruch nehmen können. Im Vordergrund also zwei deutsche Journalisten, die sich über das Leben in der Pandemie und seinen politischen Verwicklungen austauschen. Im Hintergrund immer die türkische Herkunft, das für Topçu „wieder“ ein bisschen Vordergrund geworden ist und die Erfahrung der Shoah, und des neu-gegründeten Staates Israel, dessen jetzt schon langjähriger Bewohner Richard C. Schneider ist, und aus dem er für das deutsche Fernsehpublikum berichtet.
Es ist dieses Publikum, das „Lieblingsjuden“ und „Lieblingstürken“, oder allgemeiner „Lieblingsfremde“ kürt, und die anderen saisonal ins Abseits stellt, für das die beiden Autoren wohl schreiben? Ist das schon „Opferkonkurrenz“, oder Anerkennungskampf? Oder schreiben sie tatsächlich so, als würde niemand mitlesen? Und daneben sind beide auch Kinder von Eltern und schreiben sich in Zeiten, in denen es nicht mehr selbstverständlich ist, mal kurz die Eltern besuchen zu können. Neben der familiären Migrationsgeschichte läuft parallel ja noch die Pandemiegeschichte. Zu dieser gesellt sich beim Abfassen dieser Rezension eine Kriegsgeschichte, deren Ausgang noch offen ist. Eine Geschichte, die das Zeug hat, uns die letzten zwei Jahre vergessen zu machen, obwohl wir während dieser zwei Jahre dachten, es könne da nichts mehr kommen, was uns das vergessen machen lassen könnte. So kämpft einer der beiden Briefeschreiber:innen mit der zunehmenden Demenz eines Elternteils.
Der private Stil in diesem öffentlichen Briefaustausch lässt Hoffnung aufkommen, dass neben all dem weltpolitischen Wiedererstarken militaristischer Chauvinismen, die ihren Weg bis in den Bundestag gefunden haben und hasserfüllter Kommentare in sozialen Medien, die sich ihren Weg bis in das familiäre Umfeld bahnen. Hoffnung darauf, dass es letztendlich persönliche Beziehungen sind, die eine Diplomatie für das Menschliche ermöglichen. Aus Erfahrung weiß dieses „man“ aber auch, dass diese Hoffnung zuletzt stirbt. Und dieses „man“ weiß auch, dass sie nicht alleine stirbt. Sie nimmt unzählige Seelen mit. Aktuell Rezension
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