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Schulklasse © Wokandapix @ pixabay.com (Lizenz), bearb. MiG

„Döner ohne Soße“

Wenn junge Juden Schulklassen von ihrem Alltag erzählen

Viele Jugendliche in Deutschland sind noch nie in ihrem Leben Menschen jüdischen Glaubens begegnet. Das will das Projekt „Meet a Jew“ ändern. Denn Begegnung ist das beste Mittel gegen Vorurteile.

Von Donnerstag, 25.11.2021, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 24.11.2021, 12:57 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

„Hallo, ich bin Nastya, ich bin Jüdin und ihr dürft mich alles fragen“, sagt die 21-jährige Studentin und blickt in den Stuhlkreis, in dem 19 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 23 Jahren sitzen. Die Schülerinnen und Schüler unterschiedlichster Herkunft gehen auf das Berufskolleg der kaufmännischen Max-Hachenburg-Schule im Herzen Mannheims und haben an diesem Montagvormittag Besuch: Zwei Freiwillige des Projekts „Meet a Jew“ („Triff einen Juden“) sind in den Unterricht gekommen.

„Zu welcher Art von Judentum gehört ihr?“ fragt eine Schülerin. Nastya erklärt, dass sie zwar kein Schweinefleisch isst, aber sich ansonsten nicht an die jüdischen Speisevorschriften hält. Hohe jüdische Festtage feiere sie und besuche jeden Sonntagmorgen das jüdische Jugendzentrum, wo sie sich bald wieder mit anderen Jugendlichen auf den „Jewrovision“-Wettbewerb vorbereite – den größten jüdischen Gesangs- und Tanzwettbewerb Europas.

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Ihr Mitstreiter Sami Wedde erzählt, dass er nicht genau wisse, ob er ein konservativer oder liberaler Jude sei. Aber sicherlich sei er nicht jüdisch-orthodox, weil er sonst am Sabbat keine elektronischen Geräte verwenden und deshalb auch keine Schalke-Spiele schauen dürfe.

Daraufhin fragt ein Jugendlicher nach Sportwetten. Darf ein Jude tippen? „Ich hoffe ja, denn ich gehe mit meinem Freund regelmäßig tippen. Aber ich bin auch realistisch und tippe nicht auf Schalke“, sagt der 20-jährige Student für Wirtschaftsingenieurwesen. Einige Schüler lachen. Das Eis ist gebrochen.

Bild von „den Juden“ aufbrechen

Ziel des Projekts des Zentralrats der Juden: den lebendigen Alltag von Jüdinnen und Juden zu zeigen und das abstrakte Bild von „den Juden“ aufzubrechen. Mehr als 350 jüdische Jugendliche und junge Erwachsene sind im vergangenen Jahr als Team live oder online in rund 230 Schulklassen sowie andere Bildungseinrichtungen oder Sportvereine gegangen. Die Freiwilligen gehören unterschiedlichen Strömungen des Judentums an und sind damit so vielfältig wie das jüdische Leben in Deutschland.

Sami erzählt, dass nur seine Mutter jüdisch sei und ihre Familie aus Marokko stamme. „Echt, Marokko? Ich komme auch aus Marokko“, platzt es aus einem jungen Mann heraus, der einen schwarzen, lockigen Vollbart trägt.

Sein jüdischer Opa sei sehr religiös und achte sehr darauf, den Sabbat einzuhalten, sagt Sami. Mit 14 Jahren habe er sich selbst überlegt, ob es ihm tatsächlich wert sei, wegen der Speisegesetze seiner Religion den Döner ohne Soße zu essen oder auf eine „Bolognese-Pizza, die unglaublich lecker aussieht“ zu verzichten. Denn nach jüdischen Regeln müssen Fleisch und Milchprodukte streng voneinander getrennt werden.

„Israelisch“ ist keine Sprache

Aber seit es viele vegane Angebote gebe, könne er sogar einen Cheeseburger essen – natürlich mit veganem Käse. Der Student und ehemalige Footballer erzählt, er unterscheide zwischen Vernunftsgeboten wie „nicht töten und „nicht stehlen“ und Geboten, die man aus Liebe zu Gott einhalte wie die Speisegebote.

„Könnt ihr Israelisch?“, fragt ein anderer Schüler. Sami erklärt, „Israelisch“ sei keine Sprache, aber er könne auf Hebräisch nicht mehr als ein Eis bestellen. Die hebräischen Buchstaben habe er vor seiner „Bar Mitzwa“ gelernt, einem Fest, in dem er als Junge in der Synagoge aus der Tora vorlesen durfte. Als 13-Jähriger sei für ihn allerdings nicht das Lesen der Tora das Wichtigste gewesen, sondern das Fest danach. „Wenn alle gemeinsam tanzen, dann ist das wie eine große Familie.“

Irgendwann traut sich eine Schülerin, die bisher geschwiegen hat, zu fragen, ob die beiden bisher Antisemitismus erlebt haben. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland mehr als 2.400 Straftaten mit antisemitischen Hintergrund gemeldet.

Eine beängstigende Situation

Nastya ist besonders ein Vorfall aus ihrer Kindheit in Erinnerung: Als etwa zehnjähriges Mädchen habe sie einmal mit ihrer Freundin auf der Straße in ihrem Heimatort im schwäbischen Rottweil gespielt. Plötzlich seien mehrere ältere Jungen mit Stöcken in der Hand auf sie zugerannt gekommen und hätten „Scheißjuden“ geschrien. Eine beängstigende Situation, die sie nie vergessen werde, sagt Nastya.

Im Raum herrscht betroffene Stille. Aber sie wisse, dass nicht alle ihre jüdischen Freunde und Verwandte so etwas erlebt hätten und teilweise auch Muslime ähnliche Feindlichkeit ihnen gegenüber erfahren hätten, schiebt Nastya hinterher.

Die Fragen ebben nicht ab. Was machen sie an Weihnachten? Nastya erzählt, dass sie an Heiligabend mit anderen Freunden chinesisches Essen bestellt und einen Spieleabend macht. Dürfen Juden sich tätowieren lassen? Der Körper sei ein Geschenk Gottes, das man so zurückgeben sollte, wie man es erhalten habe, weshalb Tattoos nach Ansicht einiger Gelehrte nicht erlaubt seien.

Den Schalter im Kopf umlegen

Der Gong ertönt, die Schülerin Kassandra packt ihre Sachen zusammen, schnell machen einige noch mit ihren Tablets ein Bild von den beiden Besuchern für ihr Online-Lerntagebuch. „Toll, dass die beiden so offen waren“, sagt Kassandra und erklärt, dass sie nicht gedacht habe, dass die beiden ihre Religion „so locker“ sähen.

Hubert Schumm, Abteilungsleiter des Berufskollegs sagt, er habe „Meet a Jew“ eingeladen, weil ihm wichtig sei, dass das gute und friedliche Zusammenleben an seiner Schule trotz aller Unterschiede in Herkunft und Religion weiter gefördert werde.

Sami ist seit vier Jahren bei „Meet a Jew“ und hatte bereits rund 40 Begegnungen. „Wenn jemand mich fragt, welche Videospiele ich spiele, dann freue ich mich, weil ich dadurch für ihn zu einem ganz normalen Menschen werde“, sagt der junge Mann mit Brille und hellbraunen Locken: „Es gibt kein besseres Gefühl, als zu sehen, da wird im Kopf ein Schalter umgelegt.“ (epd/mig) Aktuell Gesellschaft

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