Europäischer Gerichtshof, EuGH, Europa, Rechtsprechung
Europäischer Gerichtshof (EuGH) © Cédric Puisney @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Europäischer Gerichtshof

Kopftuchverbot am Arbeitsplatz ohne guten Grund nicht rechtens

Wie weit reicht der Einfluss des Arbeitgebers, darf er einer Erzieherin oder Verkäuferin das muslimische Kopftuch verbieten? Der Europäische Gerichtshof entschied: „Ja, er darf“ - doch muss er ein Verbot gut rechtfertigen. Muslime und Juden sind besorgt.

Freitag, 16.07.2021, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 15.07.2021, 15:01 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Arbeitgeber dürfen Angestellten ein muslimisches Kopftuch im Job verbieten, müssen das aber gut rechtfertigen und entsprechend auch gegen andere religiöse und weltanschauliche Zeichen vorgehen. Das urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am Donnerstag zu zwei Fällen aus Deutschland. Das Verbot kann demnach rechtens sein, um Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln oder soziale Konflikte zu vermeiden. (AZ: C-804/18 und C-341/19)

In dem einen Fall ging es um eine Heilerzieherin in einer Kindertagesstätte des Hamburger Vereins WABE (Wohnen, Arbeiten, Betreuen, Entwickeln). Die zweite Frau war Verkäuferin bei der Drogeriemarktkette Müller. Beide trugen am Arbeitsplatz ein islamisches Kopftuch und gerieten darüber in Konflikt mit dem Arbeitgeber. Die in Deutschland zuständigen Gerichte wandten sich zur Auslegung des EU-Rechts nach Luxemburg.

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Benachteiligung einzelner Religionen unzulässig

Der EuGH urteilte nun, dass der Arbeitgeber grundsätzlich das Tragen „jeder sichtbaren Ausdrucksform politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen“ verbieten dürfe. Das müsse aber einem „wirklichen“ Bedürfnis entsprechen, der Arbeitgeber müsste also sonst Nachteile erleiden. Maßgeblich seien die Erwartungen der Kunden beziehungsweise Eltern. Im letzteren Fall sei das „der Wunsch von Eltern, dass ihre Kinder von Personen beaufsichtigt werden, die im Kontakt mit den Kindern nicht ihre Religion oder Weltanschauung zum Ausdruck bringen“.

Zugleich machte der Gerichtshof klar, dass ein Verbot nicht bestimmte Anschauungen oder Religionen wie hier den Islam besonders treffen darf. Er hielt in dem Zusammenhang fest, dass der Arbeitgeber der Erzieherin eine andere Mitarbeiterin, die ein religiöses Kreuz trug, zum Ablegen des Kreuzes bewegt habe. Die von einem Unternehmen gewünschte Neutralität müsse ganz konsequent umgesetzt werden, erklärte das Luxemburger Gericht.

Entscheidung liegt bei deutschen Gerichten

Damit folgte das Gericht dem Gutachten des Generalanwalts Athanasios Rantos nicht. Er hatte sich im Februar dieses Jahres dafür ausgesprochen, Arbeitgebern mehr Entscheidungsraum zu geben. Danach sollten Arbeitgeber kleine religiöse Symbole wie Kreuze an Halsketten zulassen und nur große, sichtbare Symbole wie das Kopftuch verbieten dürfen.

Der EuGH gewährte in seiner Entscheidung vielmehr der deutschen Justiz, die die Fälle im Licht seines Urteils nun abschließen muss, Ermessensspielraum. Dieser könnte den betroffenen Frauen zugutekommen. Denn die nationalen Gerichte dürfen beim Abwägen der in Rede stehenden Rechte und Interessen „dem Kontext ihres jeweiligen Mitgliedstaats, und insbesondere den in Bezug auf den Schutz der Religionsfreiheit günstigeren nationalen Vorschriften, Rechnung tragen“.

Muslime: Urteil Integrationsfeindlich

In Deutschland gibt es dem Anwalt der Erzieherin zufolge tatsächlich einen „besseren rechtlichen Schutz für die Religionsfreiheit aller Gläubigen (und Ungläubigen)“ als in Europa allgemein. Er gehe insbesondere auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück, erklärte der Hamburger Anwalt Klaus Bertelsmann bereits vor dem EuGH-Urteil.

Das sieht der Vorsitzende des „Zentralrat der Muslime“, Aiman Mazyek, ähnlich. Pauschale Kopftuchverbote werde es damit auch in Zukunft in Deutschland nicht geben, „aber das Signal ist integrationspolitisch mehr als zweifelhaft“, kritisierte Mazyek im Kurznachrichtendienst Twitter. Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs sieht in dem Urteil ein fatales Signal. Es treffe in der Praxis nur Frauen, weil nur sie aufgrund ihres Glaubens vor die Frage gestellt würden: „Religion oder Arbeit“, erklärte die Religionsgemeinschaft in Köln. Ein Kopftuch lasse sich nicht ablegen wir ein Schmuckstück.

Rabbiner besorgt um Religionsfreiheit

Auch die Konferenz der Europäischen Rabbiner zeigten sich nach dem Urteil mit Blick auf die Religionsfreiheit betroffen. „Für in Europa lebende Minderheiten und moderat religiös praktizierende Menschen ist das ein alarmierendes Signal, dass es um ihre Glaubens- und Religionsfreiheit nicht gutsteht und sie gar Diskriminierungen in Kauf nehmen müssen“, erklärte ihr Präsident Pinchas Goldschmidt.

Unterdessen bekräftigte der WABE e. V. seine Haltung. „Das Wohl der uns anvertrauten Kinder steht bei uns an erster Stelle“, erklärte Vorstand Gabriele Gramann. Dazu gehöre, „dass Eltern die Wahlmöglichkeit für unterschiedliche Kita-Konzepte haben sollten: Ob Montessori oder Waldorf, ob christlich oder muslimisch oder eben auch unser Konzept der weltanschaulichen, religiösen und politischen Neutralität“, so Gramann am Donnerstag. (epd/mig) Aktuell Recht

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