Drogen

Flucht in die Sucht

Unter den 1,5 Millionen Menschen, die seit 2015 in Deutschland Asyl beantragten, leiden nicht wenige unter Suchtproblemen. Manche waren im Heimatland schon süchtig, andere lernten Drogen erst auf der Flucht oder in Deutschland kennen.

Von Mittwoch, 09.12.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 08.12.2020, 11:27 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Monir liegt nachts oft wach. Dann grübelt er statt zu schlafen: Wie geht es weiter für die Mutter in Kabul? Oder: War wirklich alles richtig mit diesem Formular? „Schlafen ist jeden Tag ein Problem“, sagt der 28-Jährige, dessen Weg von Afghanistan nach Köln mehr als ein Jahr dauerte. Die quälenden Nächte begannen vor einem Jahr hier in der Gemeinschaftseinrichtung. Zum Schlafen hilft: Opium, das kennt er aus Kabul, und „das gibt es auch in Köln“. Auf der Flucht hat er Benzodiazepine zum Einschlafen kennengelernt.

Ohne sie funktioniert bei Monir auch am Tag nicht viel. Mit aber auch nicht. Wie viele der rund 1,5 Millionen Menschen mit neuerer Fluchtgeschichte Suchtprobleme haben, darüber gibt es keine Statistik. „Sie kommen gerade nach und nach in die Suchthilfeeinrichtungen“, sagt Silke Kuhn vom Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Uni Hamburg (ZIS).

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Suchtgefährdet sind viele, sagt die Forscherin. Trauma und Depressionen seien häufige Folgen von Flucht und Verfolgung. Gefühle, die betäubt werden, um sie nicht mehr zu spüren. „Traumatisches haben eigentlich alle erlebt. Je länger die Flucht dauerte, desto wahrscheinlicher“, sagt Kuhn. Wer schlechte Chancen auf Anerkennung hat, wartend im jahrelangen Asylverfahren steckt, „erlebt dazu noch gefährliche Perspektivlosigkeit“.

Angst-Droge für die Flucht

Nicht für alle sind Drogen neu, zeigen die Daten des ZIS und auch die ersten Erfahrungen aus der Drogenhilfe. „Einige waren in den Heimatländern schon süchtig“, sagt Rainer Wege von der Münchener Drogenberatungsstelle Condrobs. Drogen gab es auch auf der Flucht, „und Stoffe wie das in Afghanistan verbreitete Opium oder das ostafrikanische Khat gibt es auch in deutschen Großstädten“. Zusammen mit anderen für die Neuen unbekannten Substanzen: Alkohol, „damit haben zum Beispiel Afghanen kaum Erfahrungen und können auch schlecht damit umgehen“, sagt Wege.

Andere wurden auf ihrer Flucht süchtig. Wie Monir aus Köln hatten sie im alten Zuhause gelegentlich konsumiert, plötzlich „nahmen ganz viele Drogen“, sagt der Asylbewerber. „Es wurden von Schleusern auch Schlafmittel und Angstlöser verteilt, damit die Menschen in zu kleinen Booten oder LKWs still bleiben“, weiß Rainer Wege aus Gesprächen mit Betroffenen. In Deutschland angekommen bekamen sie Entzugserscheinungen – und Nachschub.

Keine Sucht auf Farsi

Die Drogenhilfe stellt sich gerade auf die neuen Süchtigen ein. Auf Farsi – die Muttersprache vieler Afghanen – gebe es nicht einmal ein Wort für „Sucht“: „Suchtbehandlung, bei der man sich Fremden anvertraut, ist erst recht unbekannt.“

Als Rainer Wege 2016 zum ersten Mal in einer Unterkunft beriet, in der es Probleme mit Drogen gab, erntete der Therapeut böses Schweigen, als der Übersetzer „Sucht“ erklärte. „Das ist sehr schambehaftet – auch weil die Familie erwartet, dass man hier ein gutes Leben aufbaut.“ Wege und seine Kollegen wählen heute andere, „kultursensible“ Worte und haben sich in einem Pilotprojekt mit Fluchthilfevereinen vernetzt und beiderseits geschult. Wie Silke Kuhn in Hamburg sieht auch er viele Geflüchtete gefährdet.

„Es geht nicht so weiter“

Erreichbar sind sie fast nur über niedrigschwellige Angebote wie Kontaktcafés oder Konsumräume mit freiwilliger Beratung. Je nach Aufenthaltsstatus haben Betroffene keine Krankenversicherung, was Therapie ausschließt oder sehr kompliziert macht. „Wegen Corona gibt es in Hamburg für diese Gruppe aber auch ohne Versicherung gerade Substitutionstherapie“, sagt Kuhn. Allerdings gebe es kaum therapeutische Fachkräfte, die Farsi sprechen. „Oder georgisch, diese Geflüchteten tauchen gerade vermehrt beim Thema Sucht auf“, weiß die Psychologin. Insgesamt sei die deutsche Drogenhilfe aber gut aufgestellt und „war schon in der Vergangenheit in der Lage, auf Migration zu reagieren“, sagt Kuhn und verweist auf die Arbeit mit russlanddeutschen Konsumenten zur Jahrtausendwende.

Monir ist vor zwei Wochen in Köln in eine Beratungsstelle gegangen, von der ihm ein Bekannter erzählt hat. „Es geht nicht so weiter“, sagt er selbst. (epd/mig) Leitartikel Panorama

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