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Interview mit Bedford-Strohm

„Ein starker Moment in der deutschen Geschichte“

Vor fünf Jahren kamen Zehntausende Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof an - Landesbischof Bedford-Strohm hat das Geschehen am Münchner Hauptbahnhof hautnah miterlebt. Im Gespräch erklärt er seine Eindrücke über das historische Moment.

Von Freitag, 28.08.2020, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 27.08.2020, 21:42 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Der Münchner Spätsommer 2015 ist in die Geschichte eingegangen. Tag für Tag kamen damals in der ersten Septemberhälfte Tausende Flüchtlinge über die Balkan-Route nach München. Sie waren wochenlang unterwegs, kamen vor allem aus Syrien und Afghanistan und wagten den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer nach Griechenland, weiter nach Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich. Ihr Sehnsuchtsort: Deutschland. Der bayerische Landesbischof und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat das mittlerweile historische Geschehen im September 2015 hautnah miterlebt: am Münchner Hauptbahnhof und auf der Balkan-Route selbst. Im Gespräch blickt er zurück.

Sie wohnen und arbeiten in München, Ihr Büro liegt nur wenige Meter vom Hauptbahnhof entfernt. Wie haben Sie damals die Ankunft der Tausenden Flüchtlinge erlebt?

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Heinrich Bedford-Strohm: Bei einem gemeinsamen Mittagessen haben Erzbischof Reinhard Marx und ich uns über die ankommenden Flüchtlinge unterhalten und dann spontan beschlossen, zum Hauptbahnhof zu gehen, um uns selbst ein Bild von der Lage zu machen. Es war unglaublich. Zum einen die Flüchtlinge, die sichtlich erschöpft von ihrer Reise waren, aber auch sehr glücklich, endlich willkommen geheißen zu werden, nachdem sie in jedem Land, das sie durchquert hatten, unerwünscht waren. Zum anderen die vielen Ehrenamtlichen, die die Menschen herzlich begrüßt und mit dem Nötigsten versorgt haben – Essen, Trinken, Hygieneartikel und auch Kleinigkeiten für die Kinder. Das hat mich sehr bewegt, das war ein starker Moment in unserer deutschen Geschichte.

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Haben Sie damals schon geahnt, dass Sie einen historischen Moment erleben?

Ja, das habe ich schon geahnt. So etwas haben wir in unserem Land ja noch nie erlebt. Man hat gespürt, welche Kraft in unserer Gesellschaft steckt. Polizei, Verwaltung, Ehrenamtliche, auch unsere Kirchengemeinden, haben innerhalb kürzester Zeit eine Infrastruktur geschaffen, um die Flüchtlinge zu versorgen und dann weiter in Unterkünfte zu verteilen. Das hat doch vorher kaum jemand für möglich gehalten, dass so viel spontane Hilfsbereitschaft da ist.

Die Flüchtlinge kamen damals zu Zehntausenden über die sogenannte Balkan-Route nach Deutschland. Sie sind im September 2015 selbst nach Ungarn und Serbien gereist und haben sogar den Moment miterlebt, als Ungarn seine EU-Außengrenze geschlossen hat – und damit auch die Balkan-Route.

Das war eine sehr bewegende Reise. Denn plötzlich bekamen all die Nachrichten und Zahlen, wie viele Flüchtlinge eigentlich unterwegs sind, ein Gesicht. Besonders in Erinnerung sind mir noch die Bilder, als ich an der ungarisch-serbischen Grenze an den Bahngleisen den Flüchtlingen entgegengelaufen bin. All diese Menschen, die quasi in letzter Minute noch die offene Grenze passieren und die Europäische Union erreichen wollten. Ich habe Menschen getroffen, die alles verloren hatten: ihre Angehörigen oder Freunde, ihr Hab und Gut – entweder im Krieg oder bei der gefährlichen Bootsüberquerung im Mittelmeer. Hinter jedem einzelnen dieser Menschen steckt eine leidvolle Geschichte. Als Ungarn sein letztes Grenzstück zu Serbien geschlossen hatte, sind wir weiter Richtung Süden gefahren zur serbisch-mazedonischen Grenze. Dort haben mir die Flüchtlinge erzählt, dass sie trotz der geschlossenen EU-Grenze nicht umkehren werden. Spätestens da war klar: Eine Verbarrikadierung der EU vor den Flüchtlingen ist der falsche Weg.

Was wäre der richtige gewesen Ihrer Meinung nach?

Damals wie heute hätte es legale Fluchtwege in die EU gebraucht. Man kann nicht einfach die Grenzen zumachen, die Augen vor dem Leid der Menschen verschließen und die Verantwortung gegenüber den Flüchtlingen allein Ländern außerhalb der EU zuschieben. Oder die Flüchtlinge auf lebensgefährliche Fluchtwege zwingen. Wir sind christlich geprägt und haben daher eine Verantwortung für Menschen in Not. Alle Länder müssen ihren Teil der Verantwortung tragen.

Das beste Mittel ist immer noch, den Menschen in ihrer Heimat ein Leben mit Perspektiven zu ermöglichen: Dazu braucht es etwa eine vernünftige Klimapolitik. Denn wenn der Klimawandel weiter voranschreitet, müssen die Menschen irgendwann vor Dürre und Hunger fliehen. Es braucht außerdem eine vernünftige Handelspolitik. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass wir billige Hähnchenteile aus der EU nach Afrika schicken und so afrikanischen Kleinbauern das Geschäft wegnehmen. Wir müssen also – wie es etwas sperrig heißt – die Fluchtursachen bekämpfen. Das machen wir Kirchen mit unserem weltweiten Netzwerk und unserer Entwicklungsarbeit ja seit jeher.

Haben die EU und Deutschland aus dem Jahr 2015 gelernt? Immerhin sitzen derzeit immer noch Tausende Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos fest. Aber so richtig interessiert das gerade niemanden.

Was seit Jahren auf Lesbos passiert, ist ein Skandal. Dort sitzen nach meiner Information mindestens 16.000 Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen fest. Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal, aufs Essen müssen die Menschen stundenlang warten. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn dort Corona ausbricht. Dann hätten wir eine noch größere humanitäre Katastrophe. Dass die EU nicht einmal in der Lage ist, 1.600 Kinder und Jugendliche von dort aufzunehmen, ist unfassbar. Diejenigen EU-Länder, die helfen wollen, sollten eine Koalition der Willigen bilden und nicht darauf warten, bis sich alle EU-Staaten einig sind.

Die Menschen, die die Asylsuchenden am Münchner Hauptbahnhof willkommen geheißen haben, wurden schnell von manchen verächtlich als „Bahnhofsklatscher“ betitelt, Flüchtlingshelfer als „Gutmenschen“. Wurde im Spätsommer 2015 der Weg geebnet für den Aufstieg der AfD und Rechtspopulisten?

Natürlich hat es infolge der Ereignisse Hetze und Hass von rechtspopulistischer Seite gegeben. Verstärkt wurde diese Dynamik durch die sozialen Netzwerke – Angst- und Hassbotschaften werden nun mal häufiger angeklickt und durch die Algorithmen nach oben gespült. Daher war es auch nicht gerade förderlich, dass Politiker, wie etwa der damalige Finanzminister und heutige Ministerpräsident Markus Söder (CSU), Begriffe wie „Asyltourismus“ oder „Asylmissbrauch“ in den Mund genommen haben. Das hat den Rechtspopulisten nur in die Hände gespielt. Ich will aber auch betonen: Markus Söder hat sich später von seinen Aussagen distanziert. Dafür war ich sehr dankbar, das war ein Zeichen von Größe und Ausdruck eines Lernprozesses, vor dem ich großen Respekt habe. Ich bin jedenfalls froh, dass sich am Ende die Stimmen der Vernunft durchgesetzt haben. Man holt sich ja keine Stimmen von der AfD zurück, indem man selbst deren Wortwahl gebraucht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat 2015 ihren berühmten „Wir schaffen das“-Satz gesagt. Jetzt fünf Jahre später: Haben wir es tatsächlich geschafft?

Dass eine Regierungschefin in einer schwierigen Situation nicht Angst verbreitet, sondern Zuversicht, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Natürlich hat es Schwierigkeiten gegeben, das war ja zu erwarten. Wir mussten ja erst einmal lernen, wie wir all die Menschen integrieren können. Das klappt zum Beispiel besser in dezentralen Unterkünften und nicht in großen Sammelunterkünften, wo die Stimmung wegen der mangelnden Privatsphäre schnell mal aggressiv werden kann. Und natürlich klappt die Integration nicht bei jedem gleich gut. Aber inzwischen sind rund eine halbe Million Flüchtlinge entgegen aller anfänglichen Befürchtung in Arbeit oder Ausbildung. Das ist doch eine riesige Leistung und eine Erfolgsgeschichte für unser Land! (epd/mig) Aktuell Interview Panorama

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