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Opferanwälte über das NSU-Urteil

Ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaates

Zwei Jahre hat sich das Münchner Oberlandesgericht Zeit für das schriftliche Urteil im NSU-Prozess genommen. Jetzt gehen die Nebenklage-Anwälte mit den 3025 Seiten hart ins Gericht. MiGAZIN dokumentiert die Kritik der Anwälte im Wortlaut.

Montag, 04.05.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 03.05.2020, 18:19 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Das NSU-Urteil negiert die Dimension des NSU-Terrornetzes und ignoriert die Ergebnisse der Beweisaufnahme.

Der Rechtsstaat hat die Opfer des NSU-Terrors im Stich gelassen. Auch das schriftliche Urteil des Oberlandesgerichts München trägt nichts zur Wahrheitsfindung im NSU-Komplex bei. Es ist formelhaft, ahistorisch und kalt. Der Umfang von 3.025 Seiten soll verschleiern, dass der Senat unter Vorsitz von Manfred Götzl seiner Aufgabe der Wahrheitsfindung und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens nicht gewachsen war.

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Der Tag der mündlichen Urteilsverkündigung vor fast zwei Jahren hat sich bei unseren Mandant*innen eingebrannt. Und dies nicht nur, weil Neonazis im Zuschauerraum begeistert klatschten, sondern auch, weil Manfred Götzl schon damals die Nebenkläger*innen, ihre Perspektive und ihre Interessen mit keiner einzigen Silbe erwähnte. Die jetzt vorgelegten schriftlichen Urteilsgründe, die die immer gleichen Satzfolgen wiederholen, sind auf 3.025 Seiten eine Fortschreibung dieser Missachtung des Gerichts gegenüber den Opfern des NSU.

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Verkürzte Beweisaufnahme & künstliche Länge

So sehr die Nebenkläger schon kritisiert hatten, dass die Beweisaufnahme nicht weit genug ging: Das Urteil gibt noch nicht einmal das ansatzweise wieder, was durch die Beweisaufnahme ans Licht gebracht wurde. Es hat die Ergebnisse der fünfjährigen Beweisaufnahme bis zur Unkenntlichkeit verkürzt oder dreist verschwiegen.

„Es ist ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat.“

Immer wiederkehrende Textbausteine, die über Seiten gehen, erzeugen künstliche Länge. Mit diesem durchsichtigen Trick will der Senat des Oberlandesgerichts den Eindruck erwecken, er habe sich ausführlich mit dem Ergebnis der Beweisaufnahme auseinandergesetzt. Dieses Vorgehen wäre nur lächerlich, wenn es sich nicht um den NSU und seine fürchterlichen Taten, die gravierendste rechtsterroristische Mord- und Anschlagsserie der letzten Jahrzehnte ginge. Diese Art der Urteilsabfassung spiegelt wider, dass die Richter des Oberlandesgerichts München kein Interesse an einer Aufklärung, noch nicht einmal im Rahmen der Anklage hatten und den Betroffenen mit hässlicher Gleichgültigkeit gegenüber stehen. Es ist ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat.

Urteil reproduziert rassistischen Stereotype

Mit extremer Kälte werden die Mordopfer in diesem Urteil nur so beschrieben, wie sie vom NSU gesehen wurden – Zitat: „Aufgrund der durch sein Aussehen naheliegenden südländischen Abstammung gehörte Mehmet Kubaşık zu der von den drei Personen ausländerfeindlich-rassistisch definierten Opfergruppe“. In wortwörtlich gleichlautender Weise sind im Urteil alle Mordopfer mit Migrationsgeschichte beschrieben. Bei keinem der ermordeten Männer erwähnt das Gericht, dass sie Familienväter waren, die Ehefrauen, Kinder, Eltern und Geschwister hinterließen.

„Das Urteil beschreibt die Ermordeten als austauschbare Statisten – und reproduziert damit die rassistischen Stereotype, nach denen der NSU die Ermordeten als Objekte ihres mörderischen Rassismus ausgewählt hatten.“

Das Urteil beschreibt die Ermordeten als austauschbare Statisten – und reproduziert damit die rassistischen Stereotype, nach denen der NSU die Ermordeten als Objekte ihres mörderischen Rassismus ausgewählt hatten. Das Urteil hätte den Mordopfern des NSU ein Gesicht geben, die Lücke beschreiben können, die ihre Ermordung gerissen hat. Dazu ist in der Hauptverhandlung Beweis erhoben worden. Aber kein einziges der Worte, die die Hinterbliebenen unter großer persönlicher Anstrengung in der Hauptverhandlung im Angesicht der Angeklagten geäußert haben, darüber, wer die Getöteten waren und welche Folgen ihre Ermordung für die Familien hatte, ist vom Oberlandesgericht München auf den 3.025 Seiten aufgenommen worden.

Verfassungsschutz kein einziges Mal erwähnt

Ebenso wenig finden sich die Worte „Bundesamt für Verfassungsschutz“ oder „thüringisches Landesamt für Verfassungsschutz“ im Urteil. In der Hauptverhandlung wurde über Tage hinweg der Verfassungsschutz-Mitarbeiter Andreas Temme als Zeuge gehört, der zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat am Tatort anwesend war. Im Urteil ist noch nicht einmal sein Name erwähnt. Die Sicherheitsbehörden hätten sich selbst die Urteilsgründe nicht besser schreiben können: Weder die Nachrichtendienste und erst recht nicht ihre bis heute immer noch nicht aufgeklärte Rolle bei Entstehung und Fortbestand des NSU werden in dem Urteil auch nur angesprochen, geschweige denn die Vernichtung von Beweismitteln durch diese Behörden.

„Auch die Neonaziszene hätte sich keine besseren Urteilsgründe wünschen können. Sie können sich – wie schon zu Prozessende – entspannt zurücklehnen. Die Urteilsgründe verschweigen die Realität des NSU mit seinem großen Helfernetzwerk.“

Auch die Neonaziszene hätte sich keine besseren Urteilsgründe wünschen können. Sie können sich – wie schon zu Prozessende – entspannt zurücklehnen. Die Urteilsgründe verschweigen die Realität des NSU mit seinem großen Helfernetzwerk. Es werden die Organisationen und Strukturen der neonazistischen Szene, ohne die der NSU nicht hätte existieren können, geschont. So wird das Unterstützernetzwerk „Blood & Honour“ mit keinem Wort erwähnt. Eine Strafverfolgung der mutmaßlichen Helfer und Unterstützer wird es nach diesem Urteil des Oberlandesgerichts München kaum geben.

Diese schriftlichen Urteilsgründe werden also letztlich zu einer weiteren Stärkung der Neonaziszene und der Nachrichtendienste führen, die mit ihren V-Leuten weiterhin einen wichtigen Anteil am Aufbau und Fortbestand rechter und neonazistischer Strukturen haben.

Besonders kritikwürdig sind zusammengefasst folgende Aspekte der schriftlichen Urteilsgründe:

„Die Mordopfer des NSU werden mit keinem Satz individualisiert; es wird lediglich ihr Name genannt, noch nicht einmal ihr Alter. Bei Betroffenen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hatten, wird diese Tatsache explizit benannt – bei denen, die die deutsche Staatsangehörigkeit hatten, wird dies nicht erwähnt.“

1. Die Mordopfer des NSU werden mit keinem Satz individualisiert; es wird lediglich ihr Name genannt, noch nicht einmal ihr Alter. Bei Betroffenen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hatten, wird diese Tatsache explizit benannt – bei denen, die die deutsche Staatsangehörigkeit hatten, wird dies nicht erwähnt. Auch wird in Bezug auf alle Mordopfer stereotyp behauptet, dass sie „südländisch“ aussahen, und bei allen, bis auf Theodoros Boulgarides, dass sie „türkisch-stämmig“ gewesen seien.

2. Die Urteilsbegründung stützt sich auf die – nicht nur von Seiten der Nebenklage seit langem als grundfalsch erkannte – Behauptung von Sicherheitsbehörden und der Bundesanwaltschaft, dass der NSU nur aus drei abgeschotteten Personen bestanden habe. Diese Behauptung soll einerseits die Sicherheitsbehörden von dem Vorwurf entlasten, der NSU hätte früher enttarnt und seine Taten hätten damit verhindert werden können. Zum anderen kommt diese These den Strafverfolgungsbehörden in ihrem Bestreben entgegen, die Aufklärung für beendet zu erklären.

Das Urteil kann nur zu diesem Schluss kommen, weil alle Ergebnisse der Beweisaufnahme zur Einbindung der drei nach deren Abtauchen in die Szene und die Unterstützung nicht nur von Einzelpersonen, sondern von Strukturen schlicht nicht erwähnt werden. Durch Aussagen von Zeug*innen und weitere Beweismittel wurde hingegen klar belegt, dass ohne die „Blood & Honour“-Struktur und ein Netzwerk von namentlich bekannten Neonazis der NSU seine Verbrechen nicht hätte begehen können. Was dazu im Rahmen der Beweisaufnahme ans Licht gebracht wurde, wurde durch das Oberlandesgericht aus dem Urteil herausgehalten.

3. Dazu passt, dass in den schriftlichen Urteilsgründen die Rolle der Nachrichtendienste und Polizeibehörden völlig totgeschwiegen wird. Es fehlt an jeglicher Erwähnung von Ergebnissen der Beweisaufnahme, wonach diese Behörden bereits im Herbst 1998 über den V-Mann und Zeugen Szczepanski über ausreichend Wissen verfügten, um eine Festnahme von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe umzusetzen. Im Gegenteil wird im Urteil an einer Stelle völlig unvermittelt und ohne weitere Erläuterung den Sicherheitsbehörden ein Persilschein ausgestellt, indem die Aussage eines Polizeizeugen als glaubhaft bezeichnet wird, wonach die drei Personen für die Ermittlungsbehörden ab dem 26. Januar 1998 „nicht mehr greifbar“ gewesen seien und vergeblich nach ihnen gefahndet worden sei.

Das Urteil darf kein Schlussstrich sein, da die zentralen Fragen unserer Mandant*innen immer noch nicht beantwortet sind.

4. Der weitgehende Freispruch von André Eminger ist nicht nur nicht nachvollziehbar, sondern auch lebensfremd und in sich widersprüchlich. Er beruht maßgeblich auf den Angaben Zschäpes. Es ist nicht nachvollziehbar, dass das Gericht Zschäpes Eminger entlastende Behauptungen glaubt, wenn es gleichzeitig feststellt, dass es Zschäpes Rolle im NSU war, alle mit den Taten des NSU und dessen Unterstützern in Zusammenhang stehende Beweismittel zu vernichten. Noch weniger ist der Freispruch verständlich, weil das Gericht erst ein dreiviertel Jahr zuvor auf knapp 30 Seiten begründet hatte, warum André Eminger der Beihilfe zum versuchten Mord an Mitgliedern der Betreiberfamilien des Lebensmittelladens in der Probsteigasse und der Beihilfe zu zwei Raubtaten dringend verdächtig ist.

Das Urteil darf kein Schlussstrich sein, da die zentralen Fragen unserer Mandant*innen immer noch nicht beantwortet sind.

Wir danken all denjenigen, die gegen staatliche Interessen die Aufklärung der Verbrechen des NSU zu ihrer Aufgabe gemacht haben.

Unsere Mandant*innen und wir fordern:

– Das Urteil kann kein Schlussstrich sein. Die Aufklärung des NSU-Komplexes muss weitergehen.

– Sämtliche Akten im NSU-Komplex – die Gerichtsakte des OLG München, die Ermittlungsakten der Bundesanwaltschaft ebenso wie alle Akten und Daten, die den 13 parlamentarischen Untersuchungsausschüssen vorgelegen haben -, müssen zentral im Bundesarchiv archiviert und dort allen Personen mit einem berechtigten juristischen, journalistischen oder wissenschaftlichen Interesse auf Antrag und ohne Sperrungen zugänglich gemacht werden.

Rechtsanwält*innen

Seda Başay-Yıldız, Dr. Anna Luczak, Antonia von der Behrens, Edith Lunnebach, Önder Boğazkaya, Gül Pinar, Dr. Mehmet Daimagüler, Eberhard Reinecke Dr. Björn Elberling, Sebastian Scharmer, Berthold Fresenius, Kiriakos Sfatkidis, Alexander Hoffmann, Isaak Sidiropoulos, Carsten Ilius, Dr. Peer Stolle, Ali Kara, Turan Ünlüçay, Stephan Kuhn

Leitartikel Panorama
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