Müll, Flüchtlingslager, Flüchtlingscamp, Griechenland
Flüchtlingslager in Griechenland © Miriam Tödter

Eine Geschichte aus Europa

„Ich möchte leben wie jeder andere“

Über 8.000 geflüchtete Menschen leben überfüllten Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Chios. Hinter jeder Person steckt eine Geschichte. Mohamad, der schon mit 14 Jahren alleine fliehen musste, hat uns seine erzählt.

Von Mittwoch, 15.04.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 14.04.2020, 15:10 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Mein erster Eindruck von Mohamad sind seine großen, unglaublich traurigen Augen. Als ich ihn Anfang Februar auf Chios treffe, lebt er in einem verfallenen Haus. Es regnet durch die Löcher im Dach, der Wind heult durch die kaputten Mauern und die Ratten fressen sein Essen. Mit ein paar Decken schläft er zwischen Müll und Schutt. Zu diesem Zeitpunkt ist es auf Chios kälter als in Deutschland, nachts sinken die Temperaturen auf null Grad Celsius. Ich bin auf der griechischen Insel, um unseren Hilfsgüter-Truck von „Wir packen’s an“ in Empfang zu nehmen.

Die griechische Insel Chios liegt in der Ägäis, sieben Kilometer vor der türkischen Küste. Im letzten Jahr hat sich die Zahl der dort ankommenden Menschen auf der Flucht vervielfacht. Über 8.000 geflüchtete Menschen leben zurzeit auf Chios. Das Lager Vial wurde ursprünglich für knapp 1.100 Menschen errichtet.

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Den Tag habe ich damit verbracht, zusammen mit Freiwilligen von Chios Eastern Shore Response Team (CESRT) Müll im inoffiziellen „Dschungel“ des Lagers Vial einzusammeln. Plastikflaschen voller Urin, die als Nachttopf benutzt wurden. Bergeweise dreckige Windeln. Menschliche Kothaufen, zwischen denen Kinder Fußball spielen. Verwesende Fleischreste. Rattenlöcher unter Müllhaufen. Direkt daneben essen Menschen, spielen Kinder, werden Babies geboren. 4.000 Menschen sind gezwungen so zu leben. Ein süßlich-beißender Gestank, der auch Stunden später nicht aus der Nase geht. Es gibt keine Mülleimer, nicht einmal Müllsäcke, keine Toiletten, kein fließendes Wasser.

Als wir beginnen, den Müll in unsere mitgebrachten Müllsäcke einzusammeln, kommen zahlreiche Menschen aus dem Lager dazu und packten mit an. Immer wieder bitten sie uns um Müllsäcke, die wir ihnen nicht geben können, weil wir nicht genug für alle haben. Als wir nach mehreren Stunden Knochenarbeit das Lager wieder verlassen, haben wir vielleicht fünf Prozent der Fläche vom schlimmsten Müll befreit. Die Freiwilligen von CESRT tun dies dreimal pro Woche, jede Woche, jeden Monat, immer wieder. Ihr größter Wunsch: Genug Müllsäcke, um sie im Lager verteilen zu können, damit diese unerträglichen Zustände gar nicht erst entstehen müssen.

Mit 14 auf den Weg gemacht

Ich sehne mich nach einer heißen Dusche und fühle mich gleichzeitig schuldig. Ich werde diesen Luxus genießen, während all die Menschen, mit denen wir stundenlang zusammengearbeitet haben, in Dreck, Schlamm, Kälte und Gestank zurückbleiben müssen. Und dann treffe ich Mohamad.

Mit 14 musste Mohamad seine Heimat in Syrien verlassen, um im Libanon zu arbeiten und seine Familie zu unterstützen. Als er zurückkehrte, war sein Zuhause zerstört, Teile seiner Familie ermordet. So floh Mohamad und machte sich mit 14 alleine auf den langen, traumatischen Weg nach Europa.

„Ich musste meine Familie verlassen, als ich sehr jung war. Manchmal wünschte ich, ich könnte mit meiner Mutter reden, und weine. Mein Vater hat seit fünf Jahren nicht einmal nach mir gefragt. Es ist schwierig, wenn ich andere Menschen mit ihren Familien sehe, dann fühle ich Schmerzen in meinem Herzen. Ich konnte bisher nicht so leben wie andere, ich musste auf der Straße schlafen und hatte nicht genug zu essen.“

Er war 16, als er nach lebensgefährlicher nächtlicher Überfahrt mit einem Schlauchboot auf Chios ankam.

„Geschenk“ zum 18. Geburtstag

Zwei Jahre „durfte“ er in Einrichtungen für minderjährige Geflüchtete verbringen, erst im Lager Vial auf Chios, dann wurde er für die letzten beiden Monate auf das Festland verlegt. Als „Geschenk“ zu seinem 18. Geburtstag musste er dieses Schutzzentrum verlassen, denn die offiziellen Lager für Geflüchtete in Griechenland sind seit letztem Jahr so überfüllt, dass sie nur noch besonders schutzbedürftige Menschen aufnehmen.

Ein Schicksal von vielen sehr jungen geflüchteten Menschen in Griechenland, die eigentlich noch gar nicht erwachsen sind, schwer traumatisiert von ihrer Flucht und den Fluchtursachen, und von einem Tag auf den anderen ohne Familie, ohne Verwandte, sogar ohne Freunde in einem fremden Land mittellos auf der Straße sitzen.

Mohamad kehrte zurück nach Chios, das einzige Stückchen „Heimat“, das ihm geblieben war. Hier lebt dieser sanfte junge Mann mit den großen traurigen Augen seit ein paar Monaten in einer verlassenen Ruine. „Die letzten Monate waren sehr schwierig. Ich lebe in einem verlassenen Haus, in das es hineinregnet. Zum Schluss stand das Wasser überall, sodass ich seit drei Tagen nicht mehr schlafen konnte. Ich hatte kaum etwas zu essen und kein sauberes Trinkwasser. Das war eine wirklich harte Zeit für mich.“

Ein Zimmer – „Danke, danke, danke.“

Eine so unerträgliche Vorstellung, dass die Entscheidung leichtfällt: Wir – das heißt unser Verein „Wir packen’s an“ – werden für mindestens einen Monat eine sichere Unterkunft für ihn finanzieren.

Es ist jedoch nicht einfach, ein Zimmer für ihn zu finden, da die meisten Menschen auf Chios nicht an Geflüchtete vermieten oder aber viel Geld damit verdienen wollen. Endlich finden wir ein Zimmer in einem kleinen Hotel, es hat sogar ein Bad. Die Wirtin hat Mitgefühl und verspricht, sich auch um Essen für ihn zu kümmern. Er kann am nächsten Tag einziehen. Als ich es ihm sage, kann er es kaum fassen und wiederholte nur immer wieder „Danke, danke, danke.“ Jetzt lebt Mohamad in einem sauberen, trockenen, sicheren Zimmer. Sein größtes Glück: Endlich kann er sich wieder richtig waschen. Ein paar Tage später finden wir sogar eine Arbeit für ihn. Im Mai kann er anfangen, und wohnen und essen kann er dort auch.

„Ich möchte leben wie jeder andere. Ich möchte lernen und studieren, aber mein Leben ist sehr schwierig. Ich habe vor vier Jahren meine Mutter verloren. Ich habe in meinem Leben viel Leid erfahren. Ich möchte so gerne ein gutes Leben führen und anderen Menschen helfen. Jeden Tag gehe ich zur Sprachschule, um zu unterrichten. Nach dem Unterricht gehe ich auf den Marktplatz von Chios, um anderen geflüchteten Menschen beim Einkaufen zu helfen, indem ich für sie übersetze. Ich möchte jedem Menschen helfen, der Hilfe braucht.“

Und dann kommt Corona

Ich bin wieder zurück in Deutschland. Wir versuchen Spenden zu sammeln, damit Mohamad bis Mai nicht wieder zurück auf die Straße muss. Doch das gestaltet sich schwierig: Ein junger Mann, der Name Mohamad, kein rührendes Foto, kein spektakulärer Notfall, … Wie viele der geflüchteten Menschen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Griechenland dahinvegetieren, möchte Mohamad nicht, dass sein Gesicht veröffentlicht wird. Eine Mischung aus Angst vor den Behörden, Angst um Verwandte in der Heimat und ganz viel Scham, in dieser Situation gesehen zu werden.

Ende Februar eskalieren die rassistischen Ausschreitungen gegen die Geflüchteten auf den griechischen Inseln, auch auf Chios. Mohamad traut sich kaum noch aus seinem Zimmer. Die Hilfsaktionen der kleinen Hilfsorganisationen vor Ort kommen zum Erliegen aus schierer Angst vor der Bedrohung durch die rassistischen Bürgerwehren. Auf Chios zünden sie das Lagerhaus für Hilfsgüter einer kleinen griechischen NGO an, einer anderen wird das gleiche Schicksal angedroht, wenn sie ihre Arbeit nicht einstellen.

Und dann kommt Corona. Von einem Tag auf den anderen wird Mohamad aus seinem Zimmer geworfen. Die Unterkunft muss wegen Corona schließen. Es ist unmöglich, ein anderes Zimmer für ihn auf der Insel zu finden: Niemand will an einen Geflüchteten vermieten. Nach langem Suchen finden wir ein Häuschen in einem entlegenen kleinen Dorf – doch ein paar Stunden nach der Zusage ruft der Besitzer wieder an: Ihm wurde angedroht, sein Haus anzuzünden, wenn er an einen Geflüchteten vermietet.

Als ich Mohamad davon berichte, antwortet er niedergeschlagen: „Ich ziehe wieder in meine Ruine.“ Leitartikel Panorama

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