Nie wieder 2015!

Als Assimilation konzipierte Integration der Anderen

Wir haben es gegenwärtig weniger mit einer Migrations- oder Flüchtlingskrise zu tun, sondern mit der Krise der Legitimität und Funktionalität der nationalstaatlichen Ordnung.

Von Prof. Dr. Paul Mecheril Mittwoch, 27.11.2019, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.01.2020, 0:10 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Die Konstruktion des Nationalstaates, zumindest jener Typ von Konstruktion, in dem Raum als Territorium verstanden wird sowie Menschen, die in einem Verweisungszusammenhang stehen, als natio-ethno-kulturell Wir aufgerufen werden, steht unter gegenwärtigen Bedingungen praktisch-funktional wie legitimatorisch in einer tiefen und grundlegenden Krise. Eric Hobsbawn schreibt in dem Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe von 2004 seiner 1990 erstmals erschienen Abhandlung zu Nationen und Nationalismus: „Jener Prozess, der aus Bauern Franzosen und aus Einwanderern amerikanische Staatsbürger hat machen lassen, kehrt sich gegenwärtig um (ebd. 2004: XII)“ und er schließt das Vorwort mit der Frage, was, wenn überhaupt irgendetwas, im 21. Jahrhundert an die Stelle des allgemeinen Modells der Beziehung zwischen Staat und Volk treten wird“ (ebd.: XIII). Seine Antwort ist: „Wir wissen es nicht“ (ebd.).

Anders als vorherrschende Krisensemantiken es nahelegen, haben wir es also gegenwärtig weniger mit einer Migrations- oder Flüchtlingskrise zu tun, sondern mit der Krise der Legitimität und Funktionalität der nationalstaatlichen Ordnung, eine Krise, die nicht allein, aber auch durch transnationale Migrationen intensiviert wird. Ich möchte darauf verweisen, dass diese praktisch-funktionale wie legitimatorische Krise eine Chance der Veränderung der Verhältnisse in Richtung normativ wünschenswerter Verhältnisse darstellt und zwar deshalb, weil dem Nationalstaatskonzept eine unabweisliche, symbolische und faktische Gewalt gegen natio-ethno-kulturell kodierte Andere inhärent ist, die insbesondere unter Bedingungen transnationaler Migration und den damit verbunden Ansprüchen auf die Universalität menschlicher Selbstbestimmung in ihrem konstitutiven Legitimationsdefiziten besonders deutlich in Erscheinung tritt. Diese Gewalt gilt es zu mindern (ohne damit gleich notwendig das Ende des Nationalstaats zu fordern).

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Was Seyla Benhabib als Paradox demokratischer Legitimität und Souveränität (Benhabib 2016: 198) bezeichnet, nämlich den Umstand, dass in der Logik der demokratischen Revolutionen der Moderne Bürgerrechte auf Menschenrechten beruhen, aber Bürgerrechte nur einer exklusiven Wir-Gruppe zugesprochen werden, dieses demokratische Paradox wird in seiner Fragwürdigkeit unter gegenwärtigen Bedingungen besonders augenfällig.

Die Programmatik des Wertes des Menschen konnte sich in der Europäischen Nationenpraxis paradox nur durch faktische und symbolische Instrumentalisierung, Vergegenständlichung der Anderen sich vollziehen. In besonders klarer Weise hat dies Theo Goldberg (2002) herausgearbeitet, der zeigt, wie die Herausbildung und Verfasstheit moderner Staatlichkeit von race-Konzepten vermittelt wird. Das Vorstellungsbild und die Praxisform „Rasse“ stellen nach Goldberg einen essentiellen Bestandteil der epistemischen, philosophischen und materiellen Entwicklung des modernen Nationalstaats und seiner laufenden Gouvernementalität dar.

Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, dass im Koalitionsvertrag zwischen der Deutschen Sozialdemokratie und den christlichen Parteien in Deutschland ausgeführt wird: „Zur Sicherung der Freizügigkeit innerhalb Europas gehört ein wirksamer Schutz der europäischen Außengrenzen. Dazu wollen wir Frontex zu einer echten Grenzschutzpolizei weiterentwickeln“.

Es braucht also einer Grenzschutzpolizei und Selbstschussanlagen, es braucht also das das Sterben in Kauf nehmende Aufhalten der Anderen (und ihrer zivilisatorischen Dämonisierung) um unser Humanum der konkreten Menschheit wahr bleiben zu lassen. Dieses Spannungsverhältnis, das zwischen Paradox und Verlogenheit changiert, wird gegenwärtig besonders deutlich; nicht zuletzt auch, weil rassismuskritisches und postkoloniales Wissen, entsprechende epistemischen Instrumente und Perspektiven bedeutsamer geworden sind. Diese verweisen etwa auf die Analyse politischen, epistemischen und strukturellen Bedingungen, Formen und subjektivierenden Konsequenzen der Fortwirkung der binären Unterscheidung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, beispielsweise in der Figur der Zuintegrierenden vs. der Integrierenden/Integrierten.

Die aus dem Spannungsfeld von Aufklärung und epistemischer Gewalt resultierenden Formen der nicht zuletzt pädagogischen Produktion des Wissens über ethnisch oder kulturell kodierte Andere und ihre alltags-, wie gesellschaftspolitischen Konsequenzen geraten rassismuskritischen Ansätzen in den Blick. Mit diesen Ansätzen geht es darum herauszustellen, dass die Legitimität der natio-ethno-kulturell kodierten Unterscheidungslogik grundlegend schwach ist und sich von daher als ein Maß des Politischen, aber auch des Pädagogischen folgendes ergibt: Es lohnt Praktiken und Lebensformen zu erkennen, strukturell anzuerkennen, aber auch ihre Aneigenbarkeit zu ermöglichen, die nicht in dieser Intensität und nicht in dieser Weise von natio-ethno-kulturellen Regimes der Unterscheidung bestimmt und angeordnet werden.

Info: Dieser Beitrag ist eine Kooperation von MiGAZIN mit dem Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg, unterstützt durch das Projekt „Empowerment – quer gedacht?!“ von adis e.V. – gefördert im Programm „Demokratie leben!“. Das Netzwerk versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen. Das Netzwerk informiert Interessierte in regelmäßigen Abständen von circa 1-2 Monaten per E-Mail-Newsletter über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen und Publikationen im Feld der Migrationspädagogik. In dem 25. Newsletter der zum 10-jährigen Jubiläum des Netzwerks erscheint, ist dieser Gastkommentar von Prof. Dr. Paul Mecheril veröffentlicht.

Die Dinge müssen hierbei nicht gänzlich neu entdeckt werden und es kann hier auf Ansätze wie diversity education, global citizenship education, Menschenrechtspädagogik, Friedenspädagogik, kosmopolitische Pädagogik, nachhaltige Bildung etc. hingewiesen werden. Die Räder müssen nicht neu erfunden werden, jedoch benötigt die Pädagogik, die hier angedeutet ist, einen dezidiert kritischen Bezug auf implizite und explizite race-Kategorien, in und mit denen die Ungleichheit des Menschen durchgesetzt und legitimiert wird, womit sich auch das verbindet, was Bauman (2006) Adiaphorisierung nennt, also eine moralische Neutralisierung und die Alltagskultur einer buchhalterisch-administrativen Gleichgültigkeit, die die Anteilnahme an dem Schicksal und Leid Anderer verhindert und damit auch jene politische Einbildungskraft, die erforderlich ist, um Menschheit politisch wie pädagogisch nicht partikular und bloß konkret, sondern konkret allgemein zu denken. Bevor sich diese Kritik aber nach außen richtete, hätte sie sich an den Ort der Thematisierung zu richten, also an die Pädagogik selbst.

Angesichts der reaktionären Tendenzen in Europa und Deutschland in der auch offiziellen Migrationspolitik ist es allerdings offen, ob es dazu kommen wird. Im Koalitionsvertrag ist das Kapitel zu Migration überschrieben mit „Integration fordern und unterstützen“ (gefördert wird also nicht mehr und das Fordern hat die Führungsposition ganz offen übernommen) und es heißt dort: „Wir setzen unsere Anstrengungen fort, die Migrationsbewegungen nach Deutschland und Europa angemessen mit Blick auf die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft zu steuern und zu begrenzen, damit sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholt“. 
Nie wieder 2015!

Das klingt verstörend wie ein Echo auf die ersten Zeilen von Adornos Erziehung nach Auschwitz (vgl. Adorno 1966). Nie wieder 2015! Nie wieder darf der Vorrang unserer Wünsche und unserer Routinen in Frage gestellt werden. Und der Umstand, dass für diese Programmatik des Nie-wieder-2015, die auch im Bildungsbereich des Koalitionsvertrags ihren Widerhall findet und die weitgehend als Assimilation konzipierte Integration der Anderen in den Nationalstaat als erstes Bildungsziel setzt, mit nicht zuletzt auch monetärer Förderung einer entsprechenden pädagogischen Praxis und der entsprechenden pädagogischen Forschung als Integrationsforschung einhergeht, steigert die Zuversicht nicht, dass die Erziehungswissenschaft und Pädagogik sich rassismuskritisch mit sich selbst befasst.

Dennoch und gerade deshalb, ist der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Rassismuskritik der Pädagogik von besonderer Bedeutung. Rassismuskritische Forschung (etwa Korooshy/Mecheril 2019) ist nicht darauf aus, den Rassisten oder die Rassistin zu identifizieren und ein Urteil über sie zu sprechen. Wissenschaftliche Kritik ist nicht moralisches Urteil über die bösen und falschen anderen, sondern eine Praxis, die das Wirken von Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen, den Bedingungen ihres Wirksam-Werdens, ihre interaktiven, institutionellen und subjektivierenden Konsequenzen analysiert und auf den Begriff bringt. Rassimuskritik der Erziehungswissenschaft geht es um eine Aufklärung der Art und Weise, der Orte und Gelegenheiten der Wirksamkeit und Nicht-Wirksamkeit von in Zeiten des programmatischen Post-Rassismus, zumeist von dem Akteuren unabsichtlich aufgerufenen race-Kategorien und Fragen der Veränderbarkeit der Wirksamkeit des race-Denkens.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1966): Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 92–109.

Bauman, Zygmunt (2006): Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition, 2. Auflage.

Benhabib, Seyla (2016): Kosmopolitismus ohne Illusionen: Menschenrechte in unruhigen Zeiten. Berlin: Suhrkamp, 1. Auflage.

Goldberg, David T. (2002): The racial state. Malden, Mass. U.a.: Blackwell.

Hobsbawm, Eric J. (2004): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt a.M.: Campus.

Kooroshy, Shadi/Mecheril, Paul (2019): Wir sind das Volk. Zur Verwobenheit von race und state. In: Hafeneger, Benno/Unkelbach, Katharina/Widmaier, Benedikt (Hrsg.): Rassismuskritische Politische Bildung. Frankfurt a.M.: Wochenschau Verlag, S. 78-91.

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  1. Ermutigender Reflexionsimpuls für eine anspruchsvoll konstruktive Forderung: ‚Pädagogik für das 21. Jahrhundert‘. Ist der ubiquitäre Gemeinsinn in den westlichen Nationalstaaten und Medien aktuell auf Rückuzug und desensibiliserend gepolt (Studien weisen nach, dass Menschen der deutschen Bevökerung ihre Emphatie zurückziehen, da sie mit der Informationsfülle aktueller Krisenphänomene überfordert zu sein scheinen) zeigt der Text, dass bei mangelnder Achtsamkeit dieser Rückzug bedrohlich ausläuft in die Akzeptanz von nationalstaatlicher Gewalt und Dämonisierung der Anderen.
    Gern verweise ich in diesem Zusammenhang auf einen eigenen, gerade auf meiner Website (s.o.) eingestellten Text: Hyperhypogriff

  2. Siverius sagt:

    Ttransnationaler Migration braucht Regeln. Man kann den Nationalstaat auch abschaffen und auf Grenzen verzichten. Dann muß man aber auch zwingend auf einen Sozialstaat verzichten denn die verschwindene Empathie der Bewohner lässt dann einen Sozialstaat nicht mehr zu. Gleichwohl ist ja heute gerade der Sozialstaat in Europa der Grund für Migration. Das wäre also eine Lösung der akuten Probleme die Deutschland momentan spalten.

  3. Konrad sagt:

    Ich finde in diesem Zusammenhang das neue Buch von Karl Stickler – „Acht Menschenpflichten“ einen guten Diskussionsbeitrag, die er dem Menschenrecht auf Asyl gegenüberstellt.

    K. Krenn

  4. Ute Plass sagt:

    @Konrad: Warum und wie verknüpft der von Ihnen empfohlene Autor das Recht auf Asyl mit ‚Acht Menschenpflichten‘?
    Können Sie das an einem konkreten Beispiel veranschaulichen?