ARD, Tagesschau, Nachrichten, TV, Kamera, Journalist
Fernsehkamera © Marcus Sümnick @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

"Erschreckendes Ausmaß"

Journalisten zunehmend rechter Gewalt ausgesetzt

Reportern, Kameraleuten und Fotografen schlägt bei rechten Veranstaltungen zunehmend nicht nur Hass entgegen, auch die Zahl gewalttätiger Übergriffe auf Medienvertreter steigt. Bei vielen stellt sich ein Gefühl der Unsicherheit ein. Von Ellen Nebel

Dienstag, 02.10.2018, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.10.2018, 17:14 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Marc Bauer (Name geändert) ist seit 27 Jahren Kameramann. Beim Parteitag der hessischen AfD gerät er Mitte August in eine Situation, wie er sie bis dahin noch nicht erlebt hat. Als seine Teamkollegen vom Hessischen Rundfunk (HR) kurzzeitig den Veranstaltungsort, das Bürgerhaus im Wiesbadener Stadtteil Erbenheim, verlassen, schlägt ihm unvermittelt Hass entgegen. „Wenn diese Aufnahmen im Fernsehen gesendet werden, verklage ich dich persönlich“, ruft ihm ein Mann aus dem Publikum entgegen. Er hält ein Smartphone in der Hand, mit dem er Bauer fotografieren will.

Der Kameramann ist verunsichert, Fragen rauschen durch seinen Kopf: Kann ich tatsächlich persönlich verklagt werden? Wozu macht der Mann Fotos? „Ich will nicht, dass Sie mich fotografieren“, kontert er schließlich und verweist auf das Recht am eigenen Bild.

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Eine neue Qualität

Angriffe von rechts auf Medienvertreter nehmen in Deutschland zu. Der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm erklärte nach Übergriffen auf Medienvertreter in Chemnitz und Köthen Mitte September, es gebe ein „erschreckendes Ausmaß an Hass“ gegenüber Journalisten, Fotografen und Kameraleuten. „Reporter ohne Grenzen“ rechnet damit, dass die Zahl gewalttätiger Angriffe 2018 im Vergleich zu den Vorjahren deutlich gestiegen ist. Nach Angaben des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit gab es bis Mitte September in diesem Jahr bereits 22 tätliche Übergriffe auf Journalisten.

Tobias Wolf, Reporter der „Sächsischen Zeitung“, berichtet über die fremdenfeindliche „Pegida“-Bewegung seit ihren Anfängen 2015. Im August war er auch in Chemnitz vor Ort. Wolf wird dort mit Flaschen beworfen, das kennt er. „Da stellt sich eine gewisse Gewöhnung ein“, sagt der 40-Jährige. Doch er erlebt in Chemnitz auch, wie ein Kollege von einem unscheinbar wirkenden Rentner angegriffen wird. „Das ist eine neue Qualität“, sagt Wolf. Er, der sich schon länger in seinem Alltag auf der Straße umschaut, um zu sehen, wer hinter ihm läuft, sagt inzwischen: „Heute müssen Sie als Journalist in Dresden, der über ‚Pegida‘ berichtet, damit rechnen, von einer lieben Oma in der Straßenbahn angegriffen zu werden.“

Gegen Fake-News-Filterblasen

Die Folgen seiner Arbeit beeinflussen das Sicherheitsgefühl des gebürtigen Dresdners im privaten Alltag. Wolf hat sich die Frage schon vor Jahren gestellt: „Wenn sich alle einigeln in ihren Fake-News-Filterblasen, hat es einen Sinn, was ich hier mache?“ Seine Antwort lautet: „Jetzt erst recht.“ In Sachsen zeige sich die demokratischen Entwicklung in Deutschland in einem Brennglas, meint Wolf. Für ihn ist es auch deshalb keine Option, aufzuhören.

Wer Journalisten bei der Ausübung ihres Berufes einschüchtere oder sogar körperlich angreife oder dies zulasse, lege Hand an eine tragende Säule einer freiheitlichen offenen Gesellschaft, erklärte Karola Wille, Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), im September. „Die Medienfreiheit unterscheidet uns wesentlich von totalitären Systemen“, sagte Wille.

Deutscher Presserat und PEN mahnen

Der Deutsche Presserat hat Politik und Sicherheitsbehörden deshalb jüngst an ihre Verantwortung für die Gewährleistung der Pressefreiheit erinnert. „Die deutsche Verfassung weist Presse und Rundfunk einen hohen Rang zu, weil die Staatsform der repräsentativen Demokratie ohne unabhängige, an ethische Grundwerte gebundene Beobachtung durch Medien nicht lebensfähig ist“, heißt es in einer vom Plenum des Presserates verabschiedeten Erklärung.

Die internationale Schriftstellervereinigung PEN zeigt sich ebenfalls besorgt angesichts dieser Situation. Die Mitgliederversammlung habe Ende September im indischen Pune eine von der Präsidentin der deutschen Sektion, Regula Venske, eingebrachte Resolution zu diesem Thema verabschiedet, teilte das PEN-Zentrum Deutschland am Montag in Darmstadt mit.

PEN kritisiert Seehofer

Die Vertreter von rund 90 auf dem Kongress vertretenen nationalen PEN-Zentren appellierten angesichts der Ereignisse in Chemnitz an die deutschen Behörden, „das verfassungsmäßig verbriefte Recht auf freie Berichterstattung wirkungsvoll zu schützen, die strafrechtlich relevanten Übergriffe aufzuklären und zu ahnden, sowie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entschieden zu bekämpfen“.

Ein Bundesinnenminister, der die Migrationsfrage als „Mutter aller Probleme“ bezeichnet, zeige nicht nur Verständnis für die Rechtsbrüche, sagte der Generalsekretär des deutschen PEN-Zentrums, Carlos Collado Seidel, mit Blick auf Innenminister Horst Seehofer (CSU). Er befeuere damit auch „Hass und Aggression und folgt in erschreckender Weise Gedankengängen, die zur Machtübernahme der Nationalsozialisten beigetragen haben“.

„Ich bin unsicher geworden.“

HR-Kameramann Bauer hat beim AfD-Parteitag in Wiesbaden Glück gehabt: Die Situation hatte sich nach seiner Aufforderung, ihn nicht zu fotografieren, erledigt. Alle seine Filmaufnahmen seien später im Fernsehbeitrag so verwendet worden wie geplant. Im Abspann des Beitrags wollte Bauer trotzdem lieber nicht erwähnt werden. Im Sender schilderte er sein Erlebnis und fühlte sich damit ernstgenommen und gut beraten. Dennoch sagt Bauer: „Ich bin unsicher geworden.“ (epd/mig) Aktuell Panorama

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