Zimmer frei?
Wer privat junge Flüchtlinge aufnimmt, braucht Neugierde und Optimismus
Gastfamilien für junge Flüchtlinge zu finden, fällt den Behörden nicht leicht. Auswahl, Begleitung und Schulung von Interessenten kosten Zeit. Doch wenn beide Seiten zueinander passen, sei es eine Riesenchance für die Flüchtlinge, sagen Experten.
Von Dirk Baas Montag, 04.09.2017, 4:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 07.09.2017, 22:34 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Der Journalist Henning Sußebach nahm Ende 2015 den syrischen Flüchtling Amir Baitar für sieben Monate in seine Familie auf. Einfach war das nicht, berichtet er in einem Buch, das er über diese erlebnisreiche Zeit geschrieben hat. Doch er ist überzeugt: Pflegefamilien bieten ein gutes Umfeld zur Integration von Flüchtlingen. Gebraucht würden nur Neugierde und Optimismus – aber vor allem intensive fachliche Begleitung, betonen Experten.
„Ich würde lügen, wenn ich sagte, Integration sei ein Selbstläufer“, weiß Sußebach. Es sei anstrengend, wenn zu Hause immer jemand anderes ist. Man lebe wie auf einer Bühne: „Das kostet Kraft.“ In dem Buch „Unter einem Dach“ schreiben er und der einquartierte Mathematikstudent Baitar über Vorurteile, Missverständnisse und komische Situationen, die unvermeidbar scheinen, wenn Christen und ein gläubiger Muslim unter einem Dach leben.
36.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
2016 kamen nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge knapp 36.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland. Wie viele von ihnen bundesweit in Pflegefamilien untergebracht sind, ist nicht bekannt. Doch die Jugendämter, die die jungen Flüchtlinge in Obhut nehmen, tun sich oft schwer, ausreichend viele Einzelpersonen oder Familien zu finden, die die Jugendlichen daheim aufnehmen.
Wie mühsam es ist, Familien zu finden, hat Claudia Tull, Leiterin des Teams Sozialdienst und Pflegekinderhilfe beim Jugendamt der Stadt Frankfurt am Main, erfahren. Dort sind aktuell 15 junge Flüchtlinge in Familien untergebracht, zwei von ihnen sind bereits volljährig.
Familien gesucht
Im September 2015 hätten bei einer Infoveranstaltung zum Thema Gastfamilien rund 330 Personen vor der Tür gestanden, doch nur 130 in den Raum gepasst. Im Anschluss habe sich sehr schnell herausgestellt, dass viele Bürger falsche Erwartungen hatten. Dennoch wurden rund 70 Familien überprüft, 40 von ihnen waren dann „aufnahmebereit“. Tull: „Die Unterbringung funktioniert am stabilsten, wenn es sich um gestandene Leute mit Erziehungserfahrung handelt, die gut mit Krisen umgehen können.“
In Stuttgart wurden im April 21 junge Flüchtlinge von Gastfamilien aufgenommen, berichtet Helga Heugel, die im Jugendamt für den Pflegekinderdienst zuständig ist. Sie bestätigt den großen Bedarf: „Vielleicht werben wir zu wenig, aber die letzten Veranstaltungen und Veröffentlichungen waren ohne Resonanz. Auf jeden Fall suchen wir weiter Familien für diese besondere Aufgabe“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst.
Penible Prüfung
Dass auf die Gastgeber auch massive Probleme zukommen können, wird nicht verschwiegen. Deshalb legen die Ämter viel Wert auf penible Prüfung und fachliche Begleitung der Interessenten. Das sei auch unbedingt erforderlich, schreibt Anna Händel von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt in ihrer Bachelor-Arbeit: „Neben Kenntnissen im Bereich Flucht und Asyl ist ein hohes Maß an Belastbarkeit erforderlich.“ Zudem müssten Gasteltern die Fähigkeit besitzen, andere Sichtweisen und Werte in Kultur und Glauben zu akzeptieren“ und bereit sein, sich auch „auf traumatisierte junge Menschen einzulassen“.
„Gelingt es, diese belastbaren und motivierten Personen zu finden, sie professionell auf diese Aufgabe vorzubereiten, sie zuverlässig zu begleiten, so ist eine gute Basis“ für die Aufnahme geschaffen, heißt es beim Kompetenz-Zentrum Pflegekinder in Berlin. Das bestätigt auch Carolin Winter vom „Projekt Begegnung GmbH“ in Boffzen“: „Wenn ein Pflegeverhältnis gut vorbereitet und nicht ‚überstürzt‘ wurde, sind die bisherigen Erfahrungen positiv.“
Wohngruppen oftmals geeigneter
Silke Betscher, Kulturwissenschaftlerin vom Kompetenz-Zentrum Pflegekinder, betont, nur 15 bis 25 Prozent der Jugendlichen seien selbst an Familienanschluss interessiert. Für alle anderen, meist schon durch die Flucht sehr selbstständigen Jugendlichen seien etwa locker geführte Wohngruppen besser geeignet.
Die Vorteile der Aufnahme in eine Familie sieht Anna Händel in der „individuellen Begleitung der jungen Flüchtlinge in den Alltag und in der der Option auf eine intensive Integration“. Das bestätigt auch Claudia Tull: „Die Jugendlichen finden dank Familienanbindung sehr schnell hinein in die neue Kultur und lernen auch die deutsche Sprache erstaunlich rasch. Sie kommen richtig gut an.“ (epd/mig) Leitartikel Panorama
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