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Suzan Hayider und ihre beiden Kinder kamen beim Bootsunglück ums Leben © Facebook

Familiennachzug

Die Kinderleichen des Innenministeriums

Auf der Überfahrt durch die Ägäis ertrinkende Frauen und Kinder sind die Folge des tausenden Flüchtlingsfamilien verwehrten Nachzugs, wie ein erschütternder Fall dieser Tage zeigt. Doch die Bundesregierung bleibt hart.

Von Sonntag, 02.04.2017, 21:16 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 06.04.2017, 22:37 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Nur knapp zwei Kilometer breit ist die Mycale-Straße in der Ägäis, die die griechische Insel Sisam vom türkischen Festland an der Landzunge des Güzelçamlı Naturparks trennt. Am Freitag den 24. März besteigt die junge Syrerin Suzan Hayider zusammen mit ihren beiden Kindern und 19 weiteren Flüchtlingen ein Schlauchboot. Über Griechenland will sie zu ihrem Mann Salah J. nach Deutschland gelangen, von dem sie sich vor über zwei Jahren auf der Flucht hatte trennen müssen. Der kleine Sohn des syrischen Paares war da noch nicht geboren, die Tochter gerade ein Jahr alt.

Der starke Wind und die hohen Wellen, die an diesem Tag an der Küste vor Sisam herrschen, lassen das mickrige Schlauchboot mit den 22 Flüchtlingen darin rasch kentern, wie türkische Medien berichten. Eine Schwimmweste hat keiner an Bord. Zwei der Insassen schaffen es dennoch schwimmend zurück an die nahe türkische Küste und alarmieren die Küstenwache. Insgesamt sieben der 22 Schiffbrüchigen können die Helfer retten, für Suzan Hayider und ihre beiden kleinen Kinder kommt jedoch jede Hilfe zu spät.

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Es war die schiere Verzweiflung über die jahrelange Trennung, die die intelligente Frau zu dieser waghalsigen Fahrt übers Mittelmeer veranlasste. Vor ihrer Flucht hat sie an der medizinischen Fakultät der Universität Aleppo studiert. Doch als ihrem Mann Salah J. als Reservist der syrischen Armee die Einberufung droht, flieht die Familie. In der Türkei müssen sie sich trennen; Salah kommt im Frühjahr 2015 nach Deutschland, die Familie will er bald zu sich holen, so hoffen sie.

Doch das lässt auf sich warten. Erst nach zehn Monaten kann er seinen Asylantrag stellen. Und erst im September 2016 entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) darüber. Sie erkennt Salah J. lediglich subsidiären Schutz, die Flüchtlingseigenschaft wird ihm nicht zuerkannt, obwohl das Assad-Regime Männer wie ihn wegen „Entziehung von der Wehrpflicht“ aufs härteste bestraft.

Mit Hilfe des Düsseldorfer Asylanwalts Jeremias Mameghani reicht er beim Verwaltungsgericht Düsseldorf Klage gegen das BAMF ein wie viele andere ähnlich betroffene. Die Männer wollen ihre Familien nachholen, doch genau das will ihnen die Bundesregierung und die große Koalition mit ihrem Asylpaket II verwehren. Mindestens bis März 2018 soll es den subsidiär Schutzberechtigten nicht erlaubt sein, ihre Familien, ihre Frauen und kleinen Kinder nach Deutschland nachzuholen. Die leben, wenn nicht gar noch im Bürgerkriegsland Syrien, meist in Lagern in der Türkei. Die erteilte Salah J. aber auch nach seiner Anerkennung als Schutzberechtigter in Deutschland kein Visum für einen Besuch bei Frau und Kindern, was ebenso wie die deutsche Aussetzung des Familiennachzugs gegen die Menschen- und Kinderrechtskonvention verstoßen dürfte.

Als man diesem Gesetz zugestimmt habe, habe es noch geheißen, dass davon kaum Syrer betroffen seien, weil sie meistens als Flüchtlinge anerkannt würden, sodass ihnen auch weiterhin der Familiennachzug gewährt würde, beklagte der SPD-Innenpolitiker Rüdiger Veit denn auch bei einer Expertenanhörung im Bundestag zum Thema Familiennachzug. Doch kaum war das Gesetz unterschrieben, änderte das BAMF seine Anerkennungspraxis und verwehrt nun Syrern vehement den Flüchtlingsstatus, den sie vor der Aussetzung des Familiennachzuges noch anstandslos bekamen. Nach Beobachtung von Praktikern erhalten vor allem Betroffene, die aufgrund einer Anerkennung engste Familienangehörige nachholen könnten, die Anerkennung nicht, während Ledige und kinderlose Flüchtlingen sie nach wie vor bekommen.

Die Opposition im Bundestag aus Linken und Grünen fordert deshalb, den Familiennachzug sofort wieder zuzulassen und erhält dabei Unterstützung von Kirchen, Hilfsorganisationen und Menschrechtlern. In der Anhörung schilderten sie sehr eindringlich die fatalen Auswirkungen, die die verlängerte Trennung der engsten Familie auf die Betroffenen hätte.

Die für die Unionsfraktion im Innenausschuss zuständige Berichterstatterin Andrea Lindholz (CSU) wandte sich in der Anhörung denn auch strikt dagegen, derartige allgemeine gesetzliche Regelungen anhand von Einzelfällen beurteilen zu wollen. Darauf musste sich die christsoziale Abgeordnete ausgerechnet vom Vertreter der Kirchen, dem Prälat Karl Jüsten vom Kommissariat der deutschen Bischöfe, darüber belehren lassen, dass das Gesetz nun mal einzelne Menschen betreffe und man die Augen vor deren Schicksal nicht einfach verschließen könne.

Sich auf eine Anfrage von MiGAZIN zu dem Schicksal der Familie von Salah J. zu äußern, war der Bundestagsabgeordneten am vergangenen Freitagnachmittag nicht möglich. Laut ihrer Webseite musste sie zu einem Starkbierfest in ihrem bayrischen Wahlkreis Aschaffenburg reisen. Fragen zu dem tragischen Unglück in der Ägäis muss sich auch ihr Fraktionskollege Thomas de Maizière (CDU) gefallen lassen, der als Bundesinnenminister die Verantwortung trägt. Rechtswalt Mameghani hat das Schicksal seines Mandanten Salah J. derart mitgenommen, dass er sich in einem fünfseitigen Schreiben an den Minister „seine Verbitterung von der Seele“ schreiben musste, wie er gegenüber MiGAZIN sagte.

Ob der erschütternde Brief, der MiGAZIN vorliegt, das Büro des Ministers erreicht hat, ob er es persönlich gelesen hat und ob er es auch beantworten wird, wollte sein Ministerium gegenüber MiGAZIN nicht verraten. Umso deutlicher fallen die Reaktionen seitens der Opposition aus: Sie sei einfach nur traurig und wütend, kommentiert die Innexpertin der Faktion die Linke, Ulla Jelpke die Nachricht von Tode Suzan Hayiders und ihrer beiden kleinen Kinder. „Diese Koalition nimmt sehenden Auges das Leid und den Tod von engen Familienangehörigen hier lebender schutzbedürftiger Menschen in Kauf. Das ist unerträglich.“, heißt es in einer Mitteilung der Abgeordneten.

Derzeit sieht es nicht so aus, als wolle die Große Koalition von Union und Sozialdemokraten ihre harte Linie beim Familiennachzug aufgeben. Im Koalitionsausschuss sei die SPD in Sachen Menschenrechte erneut eingeknickt, kritisiert Linken-Frau Jelpke auf ihrer Webseite. Offenbar haben sich die Schulz-Genossen ein weiteres Mal von der Union einlullen lassen, etwa davon, dass ja in humanitären Einzelfällen nach einem speziellen Paragrafen im Aufenthaltsgesetz auch derzeit der Familiennachzug gewährt werden könne. Für die Aufnahme aus dem Ausland kann aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, heißt es im Gesetz (§ 22 AufenthG). Für das Auswärtige Amt kommen derzeit unter den tausenden Betroffenen gerade einmal knapp 50 Fälle in Betracht, die derzeit mit einiger Erfolgsaussicht geprüft würden, trug ein Beamter im Innenausschuss vor.

Und vor Gericht kommt diese humanitäre Klausel schon gar nicht zur Anwendung, wie ein kürzlich vom Verwaltungsgericht Berlin entschiedener Fall zeigt. Die 30. Kammer des Gerichts lehnte den Nachzug einer syrischen Mutter zu ihrem zwölfjährigen Sohn ab. Sie selbst habe die Trennung von ihrem – inzwischen stark unter der Trennung leidenden – Sohnes ja herbeigeführt, als sie ihn zusammen mit ihrem Bruder auf den Weg nach Deutschland schickte, heißt es in dem Beschluss, der Migazin vorliegt.

Auf die Idee, dass es zu den völkerrechtlichen Gründen gehört, aus denen der Aufenthalt einer Mutter bei ihrem minderjährigen Sohn zu gewähren ist, die UN-Kinderrechtskonvention umzusetzen, sind die drei Mitglieder der Kammer Andrea Erbslöh (54) als Vorsitzende Richterin sowie ihre Beisitzerinnen Richterin Verena Frömming (57) und Richterin Müller nicht gekommen. Nach dieser von der Bundesrepublik unterzeichneten Konvention hat bei allen staatlichen Maßnahmen und Entscheidungen das Kindeswohl im Mittelpunkt zu stehen. Diese Verpflichtung des Staates entfällt auch nicht, wenn die Eltern möglicher Weise eine Fehlentscheidung getroffen haben, indem sie sich in einer außergewöhnlichen Situation auf der Flucht vor einem brutalen Bürgerkrieg entschieden haben, ihr Kind vorübergehend in die Obhut zu einem weiteren Verwandten, hier dem Onkel in Deutschland zu geben. Jedenfalls werden solche inhumanen Entscheidungen von Richterinnen und Richtern in Deutschland ebenfalls ihre Todesopfer im Mittelmeer fordern, das ist absehbar, wie der Fall von Suzan Hayider und ihren Kindern deutlich zeigt.

Wie der Bundestagswahlkampf letztlich ausgehen wird, wissen wir nicht. Aber sicher ist schon jetzt: Es wird wohl der Wahlkampf mit den meisten Todesopfern in der Geschichte des Landes – wenn auch fernab in der Ägäis. Leitartikel Panorama

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