"Dort trägt sich etwas Schreckliches zu"

Der Massenmord an den Kiewer Juden vor 75 Jahren

Die Schlucht von Babi Jar wurde im Zweiten Weltkrieg zum Massengrab für die Kiewer Juden. Die Deutschen verübten dort nach dem Angriff auf die Sowjetunion eines der grausamsten Massenverbrechen des Krieges.

Von Jürgen Prause Donnerstag, 29.09.2016, 8:19 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 29.09.2016, 15:32 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Es gehört zum traurigen Pflichtprogramm jüdischer Delegationen in Kiew: ein Besuch an den einstigen Massengräbern in der Schlucht von Babi Jar. Die Böschung ist mit Bäumen und Sträuchern bewachsen, die Besucher werfen Blumen hinab und verharren im stillen Gebet für die Ermordeten. Das Massaker von Babi Jar vor 75 Jahren zählt zu den grausamsten Massenverbrechen des Zweiten Weltkrieges. Mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann auch die systematische Ermordung der Juden in den eroberten Gebieten.

Angehörige eines SS-Sonderkommandos und zweier Polizeibataillone erschossen am 29. und 30. September 1941 in Babi Jar mehr als 33.700 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Heute erinnert am Schauplatz des Massenmordes wenig an die Verbrechen. Die Schlucht im Nordwesten der ukrainischen Hauptstadt wurde nach dem Krieg eingeebnet, auf dem Gelände ein „Kultur- und Erholungspark“ angelegt. Vor allem Pappeln und schnell wachsende Birken wurden gepflanzt. Spaziergänger führen Hunde im Park aus, Mütter schlendern mit ihren kleinen Kindern auf den mit ersten Herbstblättern bedeckten Wegen.

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Am 19. September 1941 nahmen Truppen der Wehrmacht die damalige Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik ein. Ihnen folgte das Sonderkommando 4a der SS-Einsatzgruppe C, das bereits eine Blutspur hinter der Front hinterlassen hatte. Nur zehn Tage später wurde die damals am Stadtrand gelegene „Weiberschlucht“ zum Massengrab für den Großteil der Kiewer Juden, denen es nicht gelungen war, rechtzeitig vor dem Einmarsch der Deutschen zu fliehen. Vor dem Krieg hatten etwa 200.000 Juden in der Stadt gelebt.

Als Vorwand für den Massenmord dienten Sprengstoffanschläge der Roten Armee im Kiewer Stadtzentrum. Mehrere Gebäude der Militärverwaltung wurden zerstört, zahlreiche Wehrmachtsangehörige kamen ums Leben. Bei einer Besprechung am 26. September verständigten sich Wehrmacht, SS und Polizei auf die als „Vergeltung“ getarnte Massenerschießung.

Die Deutschen forderten alle Juden der Stadt auf Plakaten auf, sich am Morgen des 29. September an einer Straßenkreuzung in einem westlichen Stadtteil zu versammeln. Sie sollten Dokumente, Geld, Wertsachen und warme Kleidung mitbringen: „Wer von den Juden dieser Anordnung nicht Folge leistet…, wird erschossen“, drohten die Besatzer.

Viele Juden, die zum Sammelpunkt kamen, glaubten, sie würden umgesiedelt. Außerdem hofften sie wohl, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur werde ihnen kein Leid geschehen. Eine endlose Kolonne von Menschen machte sich zu Fuß auf den Weg zum damaligen jüdischen Friedhof im Nordwesten der Stadt, vor allem Frauen, Kinder und ältere Männer.

Nahe der Schlucht mussten die Menschen ihre Wertsachen und Dokumente abgeben und sich entkleiden. Dann wurden sie in den Tod getrieben. Ein Mitglied des Todeskommandos schilderte später vor Gericht den Ablauf: „Die Juden mussten sich mit dem Gesicht zur Erde an die Muldenwände hinlegen. In der Mulde befanden sich drei Gruppen mit Schützen, mit insgesamt etwa zwölf Schützen. Gleichzeitig sind diesen Erschießungsgruppen von oben her laufend Juden zugeführt worden. Die nachfolgenden Juden mussten sich auf die Leichen der zuvor erschossenen Juden legen. Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschüssen getötet.“

Viele Opfer wurden lebendig begraben, weil die Kugeln sie nur verwundet, aber nicht getötet hatten. In der Stadt gingen derweil Gerüchte über das Schicksal der Juden um. Die Kiewerin Irina Choroschunowa schrieb am 29. September in ihr Tagebuch: „Wir wissen immer noch nicht, was sie mit den Juden machen. (…) Sie sagen, dass die Juden erschossen würden. Ich weiß nur eines: Dort trägt sich etwas Schreckliches zu…“

Nur wenige überlebten das Massaker. So ließ sich die 30-jährige Dina Pronitschewa, die am Abend des 29. September erschossen werden sollte, auf die Leichen in der Schlucht fallen, bevor die Schüsse sie trafen. Sie stellte sich tot. Es gelang ihr später, sich aus der bereits mit einer dünnen Erdschicht bedeckten Grube zu befreien und im Schutz der Dunkelheit zu entkommen.

Auch nach dem Massaker ging das Morden in Babi Jar weiter. Tausende weitere Juden wurden dort in den folgenden Monaten erschossen. Auch sowjetische Kriegsgefangene, Partisanen und Roma wurden hingerichtet. Bis zur Befreiung Kiews durch die Rote Armee am 5. November 1943 starben in Babi Jar nach offiziellen sowjetischen Schätzungen rund 100.000 Menschen.

Angesichts ihrer drohenden Niederlage im Russland-Feldzug versuchten die Deutschen die Spuren der Gräueltaten zu verwischen: Jüdische KZ-Häftlinge wurden im Sommer 1943 gezwungen, Tausende Leichen in Babi Jar auszugraben und zu verbrennen.

Die sowjetischen Behörden hatten nach dem Krieg kein Interesse daran, die Erinnerung an den Massenmord wachzuhalten. Der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko thematisierte das offizielle Schweigen in einem Gedicht aus dem Jahr 1961. Es begann mit der Zeile: „Über Babi Jar stehen keine Denkmäler.“

Das änderte sich erst Mitte der 70er Jahre, als ein monumentales „Mahnmal für sowjetische Bürger und für die von den deutschen Faschisten erschossenen Kriegsgefangenen, Soldaten und Offiziere der Sowjetischen Armee“ errichtet wurde. Verschwiegen wurde allerdings, dass Juden die Hauptgruppe der Opfer waren. Erst seit 1991 erinnert eine bronzene Menora an die jüdischen Opfer des Massakers. Zum 75. Jahrestag des Verbrechens plant die ukrainische Regierung einen Staatsakt für die Opfer von Babi Jar. An den Gedenkveranstaltungen wird auch Bundespräsident Joachim Gauck teilnehmen. (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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