Forschung
Angst um die deutsche Mitte
Über eine angeblich "enthemmte" Mittelschicht in Deutschland wird nach der umstrittenen "Mitte-Studie" der Uni Leipzig viel diskutiert: Die Befindlichkeit der Mittelschicht in Zeiten sozialer Herausforderungen sehen Forscher unterschiedlich.
Von Miriam Bunjes Montag, 18.07.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 21.07.2016, 17:29 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Kriminalstatistik spricht eine deutliche Sprache: Um rund 30 Prozent stieg im Jahr 2015 nach Angaben des Bundeskriminalamts die Zahl rechter Straftaten – verübt auch von Menschen, die der Polizei vorher nie als rechtsextrem auffielen. „Es gibt einen neuen Tätertyp, der die Schwelle von der Ideologie zum Anschlag ohne Zwischenschritte überschreitet“, warnte kürzlich NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) bei der Vorstellung des Landesverfassungsschutzberichts. Eine Studie der Uni Leipzig mit dem Titel „Die enthemmte Mitte“ über rechtsextreme Einstellungen sorgt daher für heftige Diskussionen: Kommt diese Radikalisierung aus der Mitte der deutschen Gesellschaft?
Durchaus, finden die Leipziger Autoren. Zwar hätten rechtsextreme Einstellungen insgesamt in der Bevölkerung nicht zugenommen: Der Anteil von Menschen mit einem „geschlossenen rechtsextremen Weltbild“ liegt bei fünf Prozent, der niedrigste je erhobene Wert der 14-jährigen Studienreihe. Dafür wuchs aber die gemessene Bereitschaft Rechtsextremer, Ziele gewaltsam durchzusetzen. Und: Einzelne Gruppen wie Muslime, Sinti und Roma, Asylsuchende und auch Homosexuelle werden stärker abgelehnt als noch 2014. Die Mitte polarisiere sich: „Wir haben Menschen, die sich aktiv um Flüchtlinge bemühen, und es gibt Menschen, die Flüchtlinge aktiv ablehnen“, sagt Studienleiter Elmar Brähmer.
Eine enthemmte Mitte? Für den Berliner Extremismusforscher Klaus Schroeder wurde „viel zu pauschal gefragt, und dann wurden skandalisierende Schlüsse gezogen“. Es seien ja tatsächlich in kurzer Zeit mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen worden und gleichzeitig durch die EU-Osterweiterung weitere Einwanderer gekommen. „Dass diese Quantität vielen Menschen Angst macht, macht sie nicht zu Radikalen“, sagt der Politologe, der die deutsche Mitte für „stabil“ hält.
Die meisten Bürger seien zufrieden mit ihrem Leben, „auch das lässt sich durch Umfragen belegen“, sagt Schroeder und verweist auf eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, nach der 91 Prozent der 30- bis 59-Jährigen ihre Lebensqualität als gut oder sehr gut bewerten. „Dafür, dass es tatsächlich neue soziale Herausforderungen gibt, ist die deutsche Gesellschaft insgesamt sehr gemäßigt.“
Persönliche Verbitterung führt allerdings zu feindlichen Einstellungen gegenüber Zuwanderern, wie eine Studie des Münchner Wirtschaftsforschungsinstituts ifo zeigt. „Wer glaubt, im Leben nicht das zu bekommen, was ihm zusteht, macht sich mehr Sorgen um Einwanderung“, sagt ifo-Forscher Panu Poutvaara, der dafür die Daten des Sozioökonomischen Panels ausgewertet hat. „Das gilt auch für Menschen mit regelmäßigem Einkommen und für Rentner, die gar nicht mehr mit den Neuzuwanderern auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren.“ Sorgen macht sich also auch die Mittelschicht.
Die gute Konjunktur in Deutschland und die im europäischen Vergleich große mittlere Einkommensschicht hält der Ökonomie-Professor aber für gesellschaftlich stabilisierend. „In Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit wie Griechenland radikalisieren sich die Bürger viel stärker nach rechts, und nationalistische Parteien haben mehr Zulauf.“ Aber auch hier richteten sich populistische Gruppen gezielt an die Unzufriedenen und schürten deren Ängste. „Es sind Umbruchszeiten überall in Europa.“ Hier sei das Klima aber gemäßigt, findet auch Poutvaara. „Es gibt ja vor Ort auch viel Unterstützung für Flüchtlinge.“
Und: Gibt es diesen Kontakt zu den Neuankömmlingen, können sich ablehnende Einstellungen sogar wieder umkehren, wie ein Forschungsprojekt aus Österreich zeigt. Wirtschaftswissenschaftler Andreas Steinmayr untersucht den Einfluss von Asylbewerbern in der Nachbarschaft auf die Unterstützung der rechten FPÖ, die ihren Zulauf nach einem auf die Flüchtlingskrise ausgerichteten Wahlkampf vielerorts verdoppeln konnte. „Gibt es im Ort Flüchtlingsunterkünfte, verringert sich die Zustimmung zur FPÖ“, sagt Steinmayr. Gleichzeitig erhöhte sich bei Kontakt zu den Flüchtlingen der Optimismus, die Integration bewältigen zu können. (epd/mig) Gesellschaft Leitartikel
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