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Der Judenstern im "Jewish Historical Museum" transitpeople @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Debatte

Muslime tragen keinen Judenstern

In seinem neuen Lied singt Xavier Naidoo: "Muslime tragen den neuen Judenstern". Das löste eine Debatte aus, nicht über die Inhalte, sondern vielfach über den Shitstorm an sich. Dabei lohnt sich ein näherer Blick. Von Florian Illerhaus und Sindyan Qasem

Von und Dienstag, 08.12.2015, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 09.12.2015, 16:13 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Xavier Naidoo will nicht aus den Schlagzeilen. Nachdem die Entscheidung, den Sänger ohne Vorausscheid zum „Eurovision Song Contest“ zu schicken, aufgrund innerhalb der zuständigen NDR-Sendeanstalt geäußerter und öffentlich laut gewordener Kritik zurückgezogen wurde, stellten sich jüngst 100 teils Prominente unter dem Motto „Menschen für Xavier Naidoo“ hinter den Künstler.

Auffällig in der Debatte war, dass zum Teil erstaunlich wenig über die eigentlichen Inhalte der Kritik an Naidoos öffentlichen Äußerungen und Auftreten berichtet, sondern vielfach lediglich von „massenhafter Empöung“ oder „Shitstorm“ gesprochen wurde. Der Sieg des neidenden Wutbürgertums – das zumindest ist die Lesart der „Menschen für Xavier Naidoo“.

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Nun reagiert Naidoo erstaunlich schnell mit der Veröffentlichung einer musikalischen Durchhalteparole, die gleichermaßen an sich selbst wie seine zahlreichen Fans gerichtet ist: „Ich hab gelernt ich soll für meine Überzeugungen / Einstehn und meinen Glauben nie leugnen / Warum soll ich jetzt nach so langer Zeit / Davon Abstand nehmen dazu bin ich nicht bereit.“ Doch welche Überzeugungen besingt Naidoo hier eigentlich? Es lohnt sich durchaus, dieser Frage nachzugehen.

Im Gestus eines auf verlorenem Posten stehenden Kämpfers für die freie Meinungsäußerung singt er im Refrain „Nie mehr Krieg nie mehr Krieg / Wenn wir das nicht sagen dürfen dann läuft doch etwas schief!“ In seiner bislang lediglich auf Facebook veröffentlichten, knapp vierminütigen Mid-Tempo-Ballade dreht sich vieles um diese beiden Sätze. Die suggerierte Unmöglichkeit, sich – auch und ganz besonders in Anbetracht des kürzlich beschlossenen Militäreinsatzes der Bundeswehr in Syrien – öffentlich gegen Krieg, Gewalt und Diskriminierung zu äußern, widerlegt sich mit Blick auf 3,6 Millionen Aufrufe und 140.000 Shares des Videos selbst (Stand: 06.12.2015). Tatsächlich spiegeln diese Zahlen auch den Unmut vieler Menschen über das neuerliche militärische Eingreifen Deutschlands im Nahen Osten wieder – einen Unmut, der im Anschluss an den Bundestagsbeschluss vergangene Woche auch medial und öffentlich verarbeitet wurde. Dass Naidoos Ballade ausgerechnet auf dem Facebook-Auftritt des Publizisten Jürgen Todenhöfer veröffentlicht wurde, verdeutlicht in diesem Zusammenhang jedoch auch, dass viele Menschen sich ihre eigenen Öffentlichkeiten jenseits etablierter Medien und Foren geschaffen haben.

Der Topos des unterdrückten Wahrheitskämpfers ist derweil in vielerlei Spielart vertreten: Thilo Sarrazin begründete seinen Rassismus mit dem angeblich herrschenden „Tugendterror“, die *gida-Bewegungen protestieren gegen die „Lügenpresse“ und salafistische Fanatiker begründen ihre Ablehnung des ‚Westens‘ immer wieder mit der beschworenen „allgegenwärtigen Medienhetze gegen den Islam“.

In seinem neuen Lied singt Xavier Naidoo: „Muslime tragen den neuen Judenstern / Alles Terroristen, wir haben sie nicht mehr gern / Es ist einfach nur traurig…“ Doch traurig ist vor allem auch die hinter diesem Statement stehende Weltsicht. Eben der Vergleich von aktuell weit verbreitetem antimuslimischem Rassismus einerseits und staatlicher Verfolgung von Juden während der Nazi-Herrschaft in Deutschland andererseits wurde unter anderem auch in einem Propaganda-Video auf der, der islamistischen Hizb-at-Tahrir nahestehenden Webseite „Generation Islam“ benutzt, um Muslime für eine Opferideologie zu vereinnahmen. In dem ansprechend animierten und vielfach geteilten Video werden tatsächliche Diskriminierungserfahrungen von Muslimen auf gefährlich-subtile Art und Weise überhöht. Der Gedanke, dass einer religiösen Minderheit in Deutschland ein ähnliches Schicksal drohe wie der jüdischen Bevölkerung während der Shoah verharmlost die systematische Tötung von Juden und reproduziert das gefährliche Narrativ einer sich unter Angriff befindenden und gegen ‚den Westen‘ zu Wehr setzenden uniformen islamischen Gemeinschaft.

Die grausame Bedeutung des zentralen antisemitischen Stigmas der Nazis darf nicht fahrlässig entschärft werden. Nur mit großem Wohlwollen könnte man Naidoo und seinem Förderer Todenhöfer Unkenntnis der Geschichte überhaupt als Entlastung anrechnen – in jedem Fall ist die Relativierung der Verbrechen der Nazi-Herrschaft die Folge solcher Verharmlosungen.

Die wirkliche Bedeutung des Judensterns beschreibt der Dresdner Philologe Victor Klemperer in seiner eindrücklichen Analyse der Sprache des Nationalsozialismus „LTI“ (Lingua Tertii Imperii) im Kapitel „Der Stern“:

„Welches war der schwerste Tag der Juden in den zwölf Höllenjahren? Nie habe ich von mir, nie von anderen eine andere Antwort erhalten als diese: der 19. September 1941. Von da an war der Judenstern zu tragen, der sechszackige Davidstern, der Lappen in der gelben Farbe, die heute noch Pest und Quarantäne bedeutet, und die im Mittelalter die Kennfarbe der Juden war, die Farbe des Neides und der ins Blut getretenen Galle, die Farbe des zu meidenden Bösen; der gelbe Lappen mit dem schwarzen Aufdruck: „Jude“, das Wort umrahmt von Linien der ineinandergeschobenen beiden Dreiecke, das Wort aus dicken Blockbuchstaben gebildet, die in ihrer Isoliertheit und in der breiten Überbetontheit ihrer Horizontalen hebräische Schriftzeichen vortäuschen.

Die Beschreibung zu lang? Aber nein, im Gegenteil! mir fehlt nur die Kunst zu genauerer, eindringlicherer Beschreibung.“

Es ist notwendig, der gegen Muslimen gerichteten Form der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Dazu gehört eine klare Analyse der aktuellen Zustände. Die nationalsozialistische Terrorherrschaft und ihre zur industriellen Perfektion getriebene Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden steht als Mahnung vor uns. Lernen können und müssen wir aus diesem paradigmatischen Fall menschlicher Grausamkeit. Auch deshalb gibt es wenig Perfideres als forcierte Opferkonkurrenz und das Ausspielen diskriminierter Minderheiten gegeneinander. Aktuell Meinung

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  1. Hermann sagt:

    Zustimmung bis auf den letzten Satz: Wo sind denn Opfer gegeneinander ausgespielt worden? Wo wurde eine Opferkonkurrenz beschrieben oder aufgebaut?

  2. Markus sagt:

    Genauso wie ihr Artikel eine Relativierung der Kriegseinsätze gegen Muslime sind? Wir leben im Jahre 2015, dazu braucht es kein öffentlichen Judenstern mehr. Das Judenproblem, oh …ähmm… Moslemproblem muss doch auf der Erde endlich gelöst werden! Nur, wie löst man das Moslemproblem?
    Wollen wir jetzt über eine wissenschaftliche Herangehensweise über dieses Problem diskutieren?
    Dieser Artikel sagt was aus? Das man den Judenstern in keinem Vergleich hineinziehen darf, da wir es Ihnen aufgebürdet haben?

  3. Magistrat sagt:

    Dem Autor ist zwar in vielen zuzustimmen. Allerdings wird die Realität dann doch etwas verharmlost. Was Naidoo, natürlich überspitzt, ausdrückt, ist die zunehmende Stigmatisierung der Muslime mit gleichzeitiger Enthemmung bei Gewalt gegenüber Muslimen und ihren religiösen Einrichtungen. Nicht nur politisch ist mittlerweile eine beängstigende Hassrethorik salonfähig, auch gesellschaftlich erleben wir einen Generalverdacht. Beispielhaft sei die extremst faschistische Rhethorik des US-Präsidentschaftskandidaten Trump, der täglich mit schlimmeren Vorschlägen aufwartet (zB Einreiseverbot für Muslime, Spezielle Registrierung von Muslimen in Registern). Auch sollte man vielleicht mal zur Kenntnis nehmen, wie viele Moscheen seit Januar in Brand gesteckt wurden. Das sind Gewaltspiralen von enormer Brisanz, die die Muslime zu Recht verunsichern. Darauf darf ein Künstler schon in pointierter Form hinweisen, daß Anprangern von Missständen ist Wesen und Zweck von Kunst. Warum so kritisch, wenn sie mal aufrüttelt? Es scheint ja doch bei vielen die Geschichte schnell vergessen zu sein, insb bei den montagabendlichen Fahnenträgern.

  4. Kai Diekelmann sagt:

    Die Legitimitäts-Floskel „man wird doch wohl noch sagen dürfen“ fand ich bislang populistisch-widerlich. Wenn X. Naidoo sich ihrer im Kontext des militärischen Einsatzes gegen den IS bedient, finde ich das (auch) nicht angemessen. Andererseits scheint die Gruppe der Kriegsgegner offenbar immer kleiner. Insofern kann man Verständnis haben mit denen, die Sorge haben angesichts schwindender Hemmungen zur Beteiligung an militärischen Konflikten. – Die Sache mit dem Judenstern muss m.E. im Kontext eines Songtextes betrachtet werden. Ein Songtext ist weder eine wissenschaftliche Arbeit noch den Regeln der political correctness verpflichtet, sondern bringt Dinge (zumeist emotional) auf den Punkt. Wer hat sich die Mühe gemacht zu fragen, was Naidoo ausdrücken wollte? Wird nicht von „den Muslimen“ nach jedem Terroranschlag eine Distanzierung gefordert? Warum? Weil klammheimliche Zustimmung vermutet wird? Wird nicht die Gefahr beschworen, mit den syrischen Flüchtlingen könnten IS-Terroristen unentdeckt nach Deutschland gelangen? Liegt da nicht der Impuls nahe: macht sie kenntlich, damit wir wissen, von wem u.U. eine Gefährdung ausgehen könnte? Warum darf in einem solchen Szenario nicht an den Judenstern erinnert werden, der Juden in der Öffentlichkeit für jederman kenntlich machte, um damit deren angebliches Gefährdungspotenzial transparent zu machen? Jedenfalls rechtfertigt das m.E. keinen Shitstorm.

  5. Magistrat sagt:

    Übrigens ist der Vergleich gar nicht so abstrus, sondern wird sogar von Historikern und Antisemitismusforschern wie Benz gezogen, und das schon 2012 !! http://www.sueddeutsche.de/politik/antisemiten-und-islamfeinde-hetzer-mit-parallelen-1.59486!

    Außerdem ist auch die Shoa nicht von heute auf morgen passiert sondern konnte erst geschehen, nachdem Jahrzehnte lang der Nährboden der Diffamierung und Ausgrenzung in damaligen Publikationen, bei Wissenschaftlern und Politikern bereitet worden war.

  6. Bendekit sagt:

    @Magistrat: Ich glaube, den Autoren sind Benz‘ Ausführungen mehr als geläufig. Antisemitismus und Islamfeindlichkeit hinsichtlich ihrer Phänomenologie und der Genese zu vergleichen (nicht vom Ergebnis der Shoa her! — das ist ja immer die verkürzende Standardkritik aus der konservativen und antideutschen Ecke), gilt unter reflektierten IslamfeindlichkeitsforscherInnen als Konsens.

    Was die Autoren meiner Einschätzung nach kritisieren, ist, das gerade Naidoo, der sich im Blick auf NS-Rhetorik und Rassismus nicht gerade mit Ruhm bekleckert, eben ausdrücklich keine Unterstützung für die AntiRa-Arbeit ist. Im Gegenteil, er erweißt ihr mit seinen überzogenen, pauschalisierenden und unreflektierten Vergleichen einen argen Bärendienst. Denn es ist faktisch richtig, dass — bei allem, was MuslimInnen an dokumentierter und zurecht empört kritisierter Feindschaft in unseren ach so toleranten westlichen Gesellschaften entgegenschlägt — sie bislang nicht zum Tragen eines solchen Stigmas (im wahrsten Wortsinne) , wie dem „Judenstern“ gezwungen wurden. Das ist im übrgien auch das, worauf das Zitat von Klemperer im Artikel hindeutet. Trumps Vorstöße (Einwanderungsverbot, Registrierdateien) gehen in dieselbe Richtung, spielen sich aber noch auf einer anderen Ebene ab, als das sichtbare, alltägliche Tragenmüssen eines gelben Lappens. Im Prinzip ist es doch das: Naidoo begeht den Fehler, den Benz nicht macht: Er vergleicht Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus vom Ergebnis her und nicht von der Genese her. Warum? Weil Naidoo einfach alles andere ist, als ein qualifizierter politischer, geschweige den rassismussensibler Denker. Insofern meine Zustimmung: Xavier Naidoo ist KEIN Partner in der AntiRa-Arbeit.

    Wenn Sie sich ansonsten einmal über die Arbeit, die das unter den Autoren verlinkte Netzwerk macht, informieren wollen: Das sind doch gerade Akteure, die es lautstark kritisieren, dass MuslimInnen (nicht erst seit *gida und Co.) als die Projektionsfläche für Ausgrenzung jedweder Art schlechthin herhalten müssen. Damit es eben nicht soweit kommt

    @Markus: Ihren Kommentar verstehe ich hinten und vorne nicht — was soll das sein? Zynismus? Ironie? Satire?

  7. Magistrat sagt:

    Man sehe sich mal an, wofür die französische Regierung die polizeilichen Ausnahmebefugnisse im verhängten drei monatigen Notstand missbraucht : willkürliches Stürmen muslimischer Restaurants, Moscheen und Häuser, willkürliche und überzogene Verhaftungswellen gegen Muslime und Gewalt! https://www.rt.com/news/325242-france-islamophobia-muslim-raids/!
    Es hat schon mal mit unsäglicher Notstandsgesetzgebung angefangen, wehren den Anfängen!

  8. Magistrat sagt:

    Wieso sagt denn da keiner was? Wo sind die Verfechter der Demokratie, der egalité, der liberté? Wieso kann ein französischer Bürgermeister sagen, die Muslime im Land seien der Feind? Wieso muss eine muslimische schwangere Frau bei einer Durchsuchung durch die Polizei ihr Ungeborenen verlieren? In wieso hat dieses unschuldige Leben kein Recht auf weltweite Anteilnahme und einen #? Wieso meinen all die falschen Betroffenen mit Paris-Flagge als Profilbild, dass damit der Einsatz für Gerechtigkeit getan ist? Und wieso fühlen sich so viele gut, wenn sie auf Kommando solidarisch sind und ihre Betroffenheit ausdrücken, aber schweigen wenn Übeltaten gegen die eigene muslimische Bevölkerung begangen werden? Ist den Menschen bewusst, dass unter den Opfern von Terror auch Muslime waren und unter den Helfern und Rettungskräften auch? Sind wir uns in dieser Gesellschaft noch darüber einig, dass jedes unschuldige Menschenleben unantastbar ist?

  9. Cengiz K sagt:

    Wir leben im digitalisierten Zeitalter, in dem Handygespräche, e-mail-Korrespondenzen, skype, twitter, etc. verfolgt werden von Geheimdiensten mit intransparenten Budgets. Mit Verlaub, diese Diskussion ist blanker Unsinn. Xavier Naidoo versucht Kapital aus einer Opferhaltung von Muslimen für seine eigenen Zwecke zu erzielen. Sowohl pekuniär für seine „Balladen“, als auch ideell für seine politisch-gesellschaftlichen Zwecke. Für ihn sein Geschäftsschema. Anders als der Montagsmahnwachler glauben mag, nach Xaviers äußerem Erscheinen gehend, ist er nämlich nach eigenem Bekundem kein Muslim. Was ja auch offensichtlich ist, wenn man/frau seine Texte anschaut.