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Flüchtlinge in Suruç © Fabian Köhler

Südtürkei

Die besorgten Bürger von Suruç

300 Flüchtlinge, 300 Tragödien, gefühlt 300 Einladungen zum Tee. Und 300 mal schämen, wie in Deutschland mit Asylsuchenden umgegangen wird. Eine Geschichte über die Fremdenfreundlichkeit echter besorgter Bürger.

Von Dienstag, 18.08.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 26.08.2015, 1:01 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Es ist einer der heißesten Tage des Jahres, als dieser Ausländer unerwartet die Straßen irgendeines deutschen Dorf entlang läuft. Nennen wir es Freidorf. Die Haare ungewaschen, die Hose voller Staub, das T-Shirt verschwitzt. Sein Deutsch als holprig zu bezeichnen, wäre beschönigend.

Freidorf ist typisch für diese Region: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, den Landkreis haben die meisten allenfalls einmal verlassen, wenn die Verwandtschaft aus dem Westen zur Goldenen Hochzeit einlud. Einmal in der Woche kommt der Bäcker auf Rädern. Aber ansonsten bleibt man meist unter sich.

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Als die ersten Einheimischen neugierig die Vorhänge zur Seite ziehen, haben die Kinder schon ihr Spielzeug in den Straßengraben geworfen. „Ausländer, Ausländer“ rufen sie und rennen lachend auf den Fremden zu. Ein kleiner Ronny erreicht ihn als ersten und greift stolz seine Hand. Er wird sie für die nächsten Stunden nicht mehr loslassen. Eine kichernde Mandy wirft Luftküsse. Günther, der Dorfälteste, bietet dem Besucher an, ihn durch die Straßen zu führen.

Am Ende des Tages wurde der Fremde rund achtmal zum Essen, zwanzigmal zum Tee und ein Dutzend Mal auf Facebook eingeladen. Er weiß, dass Ingrid nachts immer wach wird, seitdem sie ihren Mann im Krieg verloren hat. Dass Justins Traum, Maschinenbau zu studieren, am fehlenden Geld scheiterte. Und dass Susi sich nichts mehr wünscht, als endlich ihren Bruder wiederzusehen.

Die Geschichte ist nicht frei erfunden, nur in Deutschland passiert sie wohl nie. Eine Viertelstunde Fußweg vom Zentrum der südtürkischen Stadt Suruç und zwölf Kilometer von Kobane im Norden Syriens entfernt liegt das Dorf, das in Wahrheit ein syrisches Flüchtlingslager ist. Mandy und Ronnie heißen eigentlich Hamudi und Shila. Der verschwitzte Fremde bin ich. Und nicht nur Ingrid hat einen Verwandten im Krieg verloren, sondern jeder einzelne der 300 Bewohner. Wirklich jeder.

Das Lager zwischen Altmetallhandel und Brachland würde einen guten Parkplatz hergeben. Aber wer stellt schon sein Auto in diese Hitze. Bis zu acht Menschen leben in einem Container, das Modell, das man von deutschen Baustellen kennt. Innen wird es tagsüber oft über 50 Grad heiß, draußen spendet der Container zumindest etwas Schatten. Dem pinken Fußball auf dem Schotterplatz rennen die Kinder trotzdem hinterher.

Die Flüchtlinge stammen aus dem Ort, der einmal Ain al-Arab war. Eine kurdische Siedlung mit rund 60 000 Einwohnern an der türkisch-syrischen Grenze. Lange war es eine unbedeutende syrische Stadt ohne orientalische Basare, römische Amphitheater und Großstadtleben. Dann kam der Krieg und brachte erst die Unabhängigkeit und dann den Terror des Islamischen Staats (IS). Aus Ain al-Arab (arabisch), nur ein paar Meter von der türkischen Grenze und gefühlte Millionen Kilometer weit vom Rest der Welt entfernt, wurde Kobane (kurdisch). Eine Stadt, die die Welt erst kennenlernte, als von ihr fast nichts mehr übrig war.

„Die Welt hat uns verlassen“, sagt Abu Ziyad und drängt mit Nachdruck darauf, doch seinen Platz auf dem Plastikstuhl einzunehmen. Wie alle hier ist er vor dem Terror des IS geflüchtet. „Was willst du machen, wenn sie ankündigen, dich zu köpfen und deine Töchter auf dem Sklavenmarkt von Raqqa zu verkaufen“, sagt er und versucht seine Wehmut mit einem Grinsen zu verdecken. Ob er Arbeit habe? „Nein, niemand von uns“, sagt Abu Ziyad mit nun doch erkennbarem Unbehagen. Die Bewohner werden von Anwohnern und kurdischen Parteien versorgt. Wie türkische Behörden die Flüchtlinge behandelten, will ich wissen. Aber da zerrt mich Hamudi schon in den Sprühregen des gerade angekommenen Wassertrucks.

„Wir hatten alles“, sagt der 25-jährige Adnan und meint das Gemüse, den Stromgenerator und „Wasser aus dem Brunnen“, das die Selbstverwaltung den Kurden im Norden Syriens vor vier Jahren brachte. „Weißt du, die Menschen hatten Angst vor Assad, aber wir wollten auch nicht die sogenannte Revolution, die uns Freiheit versprach, aber Zerstörung brachte und bei der es in Wahrheit nur ums Geld ging. Wir wollten einen dritten Weg“, sagt er. Als Assads Truppen abzogen, hätten sie die Polizeiwache übernommen und eine „Regierung des Volkes eingesetzt“: „Es waren unsere ersten echten Wahlen.“ Ob er daran glaube, dass es wieder so werden wird wie vorher? „Ich hoffe, nein, ich weiß es.“ Sein Gesicht sieht aus, als meine er es ernst.

Nicht nur rund 80 Prozent der Häuser von Kobane und das Leben von Tausenden Bewohnern hat der Krieg gegen den IS gekostet. Auch für jene, die überlebt haben, ist kaum etwas vom alten Leben übrig geblieben. Seit Monaten geht keines der Kinder zur Schule, sind die Erwachsenen ohne Arbeit, weiß niemand, ob und wann es irgendwann wieder so etwas wie Heimat geben könnte, ob der Krieg der Türkei gegen die Kurden nicht auch bald hier ankommen wird.

Wirtschaftliche Verlustängste, fehlende Perspektiven, schlechte Bildung, das Gefühl von „der Politik“ des Alleingelassenseins, all das, womit in Deutschland der Hass auf Fremde gerechtfertigt wird, gibt es an der türkisch-syrischen Grenze tausendmal schlimmer. Nur die besorgten Bürger mit den Anführungszeichen findet man weder inner- noch außerhalb des Flüchtlingslagers. Gesellschaft Leitartikel

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  1. Realist sagt:

    Man kann die Situation mit Deutschland nicht vergleichen, das das Gros der Asylbewerber hierzulande nicht aus Kriegsgebieten stammt.