Interview mit Arturo Robertazzi

„Meine Heimat versteckt sich irgendwo zwischen den Grenzen Europas“

Arturo Robertazzi, 1977 in Neapel geboren, ist Schriftsteller und Chemiker. Das MiGAZIN sprach mit ihm über seine erste Buchveröffentlichung in Deutschland "Zagreb", über Fremdsein im eigenen Land und über die Heimat Europa.

Von Mittwoch, 11.12.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.05.2015, 17:10 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

MiGAZIN: Herr Robertazzi, herzlichen Glückwunsch, Ihr Debüt ist kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen! Wie würden Sie selbst Ihren Roman in wenigen Worten beschreiben?

Arturo Robertazzi: Zagreb ist ein Roman, der zwischen 1990 und 1995 im östlichen Kroatien spielt, genauer gesagt, in der Umgebung von Vukovar, einer Stadt, die von August bis November 1991 belagert wurde.

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Auf den letzten Seiten des Romans erfährt der Leser die Namen der Mitglieder des Erschießungskommandos, das Tag für Tag die Gefangenen der Basis (ein Schauplatz des Romans) hinrichtet. Die Namen der Soldaten lauten: Rat, Ljubav, Milost und Mladost. Oder übersetzt: Krieg, Liebe, Mitleid und Jugend. Und mit genau diesen vier Worten würde ich mein Buch beschreiben. Zagreb ist ein Roman über den Krieg und die Liebe, über das Mitleid und die Jugend.

Zagreb ist sehr brutal, schonungslos und direkt, dabei aber von großer literarischer, ja fast schon philosophischer Tiefe. Der Roman beschäftigt sich mit den Fragen, wie der Mensch im Krieg zum Täter, beziehungsweise zum Opfer wird, welcher Umstand entscheidet, ob man das eine oder das andere ist, und ob man überhaupt eine Wahl hat. Wie kam es zu dieser komplexen Auseinandersetzung?

Arturo Robertazzi Zagreb
Roman
edition haensl
Verlag auf dem Ruffel 2013
ISBN 978-3-933847-75-1
Preis 14,80 Euro

Robertazzi: Ich definiere Zagreb gern als ein Physikexperiment (aber vielleicht könnte man das über jeden Roman sagen). Wie man Teilchen und ihr Verhalten unter bestimmten Bedingungen untersucht, wollte ich die Entwicklung ganz „normaler“ Figuren studieren: zum Beispiel die Entwicklung eines Vaters, ein paar Jugendlicher, eines Händlers, eines Barmanns. Was passiert, wenn diese Figuren einer Extremsituation, wie dem Krieg, ausgesetzt werden? Zagreb war für mich anfangs eine Schreibübung: ich wollte lernen, die Veränderungen zu beschreiben, die in einem Menschen vorgehen, wenn er sich schweren, vielleicht sogar unmöglichen Entscheidungen stellen muss. Wenn nichts um ihn herum mehr so ist, wie es einmal war, wenn niemand mehr dem gesunden Menschenverstand folgt, sondern alle die Rollen spielen müssen, die nicht mehr vom eigenen Willen, sondern von den extremen Umständen der Situation bestimmt werden. In Zagreb herrscht Krieg und deshalb sind einige Figuren die Opfer, andere die Täter. Und notwendigerweise müssen die Opfer und die Täter sich bekämpfen: es herrscht Krieg, Ausnahmen gibt es nicht.

Dass das Experiment geglückt war, habe ich schon während des Schreibens gemerkt. Ursprünglich war Zagreb eigentlich nicht in einen definierten historischen Kontext eingebunden. Als ich aber sicher war, dass die Geschichte funktionierte, spürte ich die Notwenigkeit, mehr über die Kriege im ehemaligen Jugoslawien zu erfahren. Ich wollte versuchen, zu verstehen, anhand von Interviews erfahren, was die Menschen in diesen Kriegen erlebt hatten. Es ist vorgekommen, dass die Fiktion des Romans eine tatsächliche Realität abbildete, die mir eigentlich unbekannt war. Wie die Episode der Gefangenen, die von ihren Wächtern gezwungen werden, ein Minenfeld zu überqueren. Ich dachte, dass ich mir das ausgedacht hätte, stellte dann aber fest, dass so etwas wirklich passiert war: bei dem tragischen Massaker von Lovas wurden 51 Gefangene von einer Gruppe paramilitärischer Soldaten dazu gezwungen, über von ihnen selbst ausgelegte Minen zu laufen, genau wie in der Szene des Romans.

Aus welchem Grund haben Sie als Schauplatz Ihres Textes die Kriege im ehemaligen Jugoslawien gewählt?

Robertazzi: Als ich anfing, Zagreb zu schreiben, wollte ich eine fiktive Geschichte über zwei Jugendliche verfassen, die einmal Freunde waren und sich im Bürgerkrieg plötzlich als Feinde gegenüberstehen. Eigentlich hatte ich nicht vor, den Roman im ehemaligen Jugoslawien spielen zu lassen. Aber dann, als ich die Namen der Figuren auswählte, sah ich auf dem Papier Igor, Aleks, Ivo, Emir entstehen… und ich begriff, dass die Geschichte in die dramatischen Ereignisse der Balkankonflikte gehörte.

Mittlerweile, Jahre nach der Fertigstellung von Zagreb, bin ich davon überzeugt, dass ich mir die Kriege im ehemaligen Jugoslawien nicht zufällig als Schauplatz ausgesucht habe. In jenen Jahren hörte man in Italien jeden Tag etwas über den „Krieg vor unserer Haustür“. Ich glaube, dass wir Italiener, wir Europäer, innerlich mehr in diesen Krieg involviert waren, als wir uns selbst eingestehen wollen.

Wie haben Sie damals selbst die Kriege in Ihrem Nachbarland wahrgenommen?

Robertazzi: In den Neunzigerjahren, während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien, war ich ungefähr 15 Jahre alt. Und ich tat Dinge, die man normalerweise als Fünfzehnjähriger so tut: lernen, Urlaub mit den Eltern, die erste Verliebtheit. Aber irgendetwas verstörte mein Leben als normaler Jugendlicher: jeden Tag hörte man im Fernsehen, im Radio und in den Zeitungen etwas über diesen „von einem auf den anderen Tag ausgebrochenen Krieg“, den Krieg, in dem „einst befreundete Bevölkerungsgruppen sich nun als Feinde gegenüber standen“, „den Krieg an der Grenze Italiens“. Ich habe die Balkankonflikte also als eine Art Spiegelung erlebt, in Bildern, die über den Fernsehbildschirm jagten. Ich denke, dass Zagreb diese Erfahrung reflektiert: es ist ein historischer Roman sui generis, entstanden aus den Emotionen eines Heranwachsenden, der den Krieg von dem anderen Ufer der Adria aus miterlebt hat.

Zagreb behandelt ein einschneidendes Kapitel in der jüngeren europäischen Geschichte. Sie selbst sind Italiener, haben aber auch in Spanien und Großbritannien gelebt, nun wohnen Sie in Berlin. Wie sehen Sie Europa im Moment? Wie hat es sich seit Zagreb entwickelt?

„Und genau das ist meine Vorstellung von Europa: sich mischen, sich gegenseitig helfen, ein einziges großes Ganzes zu werden, in dem sich die Kulturen unserer Herkunft zu einem einzigen vielfältigen kulturellen Reichtum vereinen.“

Robertazzi: Als ich ungefähr zwanzig war (in dieser Zeit habe ich Zagreb geschrieben), träumte ich davon, Europa zu entdecken. Es nicht nur durch Reisen kennenzulernen, sondern Europa wirklich zu leben. Und so zog ich – auch weil mein Beruf als Chemiker mir diese Flexibilität erlaubt – zunächst nach Spanien, dann nach Großbritannien und schließlich nach Deutschland. Ich bin mitten in Europa aufgewachsen, habe es kennen und lieben gelernt. So sehr, dass ich mich an erster Stelle als Europäer und erst danach als Italiener fühle. Und ich lebe weiterhin „umgeben von Europa“. Mein Leben besteht aus Menschen, die viele Sprachen sprechen, in den unterschiedlichsten Ländern gelebt haben und die ihre Heimatkultur durch das, was sie im Ausland kennengelernt haben, bereichern und wachsen lassen. Und genau das ist meine Vorstellung von Europa: sich mischen, sich gegenseitig helfen, ein einziges großes Ganzes zu werden, in dem sich die Kulturen unserer Herkunft zu einem einzigen vielfältigen kulturellen Reichtum vereinen.

Neben Ihrer Tätigkeit als Autor sind Sie Wissenschaftler und arbeitest als Chemiker im universitären Bereich in Deutschland. Damit gehören Sie zu einem der vielen jungen Akademiker, die derzeit aus Südeuropa in den Norden kommen. Wie erleben Sie die berufliche und kulturelle Situation in Italien und hier?

Robertazzi: In Italien spricht man über eine „fuga di cervelli“ [wörtlich: „Flucht der Gehirne“, in Deutschland auch „Braindrain“]. Also von Leuten mit einem hohen Bildungsstandard, die einerseits wegen des politisch-kulturellen Desasters im Italien der letzten 25 Jahre, zum Teil auch wegen der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, ins Ausland gehen. Ich halte diesen Begriff jedoch für unpassend. Er versteckt nämlich die bittere Wahrheit: wir sind ebenso Migranten, wir verlassen unsere Heimat mit einem Koffer (und einem Uniabschluss oder Doktortitel), um unser Glück im Ausland zu suchen. Und genau wie einst unsere Groß- und Urgroßeltern müssen wir jeden Tag kämpfen, um eine neue Sprache zu lernen, uns anzupassen und uns gegen die Stereotypen zu wehren, mit denen man als Italiener abgestempelt wird.

Die italienische Politik ist viel zu sehr mit Privataffären und persönlichen juristischen Zankereien beschäftigt, um zu begreifen, dass dieses Phänomen den kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenhalt Italiens untergräbt.

Ich persönlich lebe seit vier Jahren in Berlin. Und ich habe Glück, denke ich, weil ich nicht wie viele andere zur „Flucht“ gezwungen war, sondern weil ich mich von mir aus dazu entschlossen habe. Ich bin sehr glücklich im Ausland, weil meine Welt sowieso aus „Ausländern“ besteht. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich in Berlin ankam. Ich fühlte mich hier sofort zu Hause. Und gleich in den ersten Wochen begann ich die kulturelle Identität Berlins buchstäblich auf wie ein Schwamm auszusaugen, der seit Jahren ausgedörrt war.

Ich unterhalte mich häufig mit Italienern, die ebenfalls im Ausland leben. Viele teilen den Schmerz, den ich jedes Mal empfinde, wenn ich zurück nach Italien komme und mich dort fehl am Platz fühle. Meine Heimat liegt nicht mehr in Italien. Sie versteckt sich irgendwo zwischen den Grenzen Europas.

Und zum Schluss: was wünschen Sie sich – aus europäischer Sicht – für die Zukunft? Und was können wir literarisch als nächstes von Ihnen erwarten?

Robertazzi: Meine Zukunft sehe ich auf den Straßen von Kreuzberg und Neukölln, in den Cafés von Schöneberg, auf dem baumlosen Rasen des Tempelhofer Parks. Und Berlin ist nicht nur der Ort, an dem ich mich in Zukunft sehe, Berlin ist auch eng mit dem Roman verknüpft, an dem ich gerade arbeite: eine groteske und tragikomische Geschichte, in der drei absolut ungewöhnliche Figuren die kafkaeske Alltagsroutine von Neukölln in Aufruhr versetzen. Ich erinnere mich noch, wie ich vor ein paar Jahren einen Stadtführer mit dem Titel „Zehn Dinge, die man in Berlin getan haben muss“ kaufte. In der Einleitung stand: „Hätte Hemigway in unserer Zeit gelebt, wäre er nicht nach Paris gezogen, sondern nach Berlin“. Nachdem ich diesen Stadtführer gelesen hatte, legte ich ihn auf den Schreibtisch und begann von Berlin zu träumen, und von dem Roman, den ich schreiben würde. Aktuell Interview

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