Kısmet
Traditionsreiche Missverständnisse
Ordnung muss sein! Nur eine typisch deutsche Floskel? Mitnichten! Bei uns zu Hause wird dieser Leitspruch mit eiserner deutsch-türkischer Disziplin praktiziert. Manchmal sind die Mentalitäten zwischen Deutschen und Türken eben doch nicht so unterschiedlich, sondern befruchten sich gegenseitig. Oder potenzieren sich.
Von Florian Schrodt Mittwoch, 17.04.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 19.04.2013, 13:09 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Meine Freundin ist quasi die lebende Durchsetzung der Hausordnung. Weshalb es nach wie vor verwunderlich ist, dass diese in türkischer Sprache ausgehängt ist. Meine bessere Hälfte ist schließlich die Einzige im Haus, die die Sprache (und auch die Hausordnung) beherrscht – ich bekanntlich noch immer nicht (das gilt für beides). Ihren Ordnungssinn bekam jedoch neulich ausnahmsweise nicht ich, sondern der Handwerker zu spüren.
Die Geduld meiner Freundin war bereits überstrapaziert. Die des Installateurs ebenso. Aber all seine Hartnäckigkeit würde ihm nichts nutzen, das war ihm allerdings noch nicht klar. Er versuchte seinen Widerstand mit einem letzten verbalen Zucken aufrechtzuerhalten: „So habe ich aber noch nie gearbeitet.“ Ich hörte nur noch mit einem halben Ohr zu, während ich mit meinem Körper versuchte, einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen ihn und meine Freundin zu bringen. Innerlich schmunzelte ich, weil es absehbar war, wie zwecklos seine Interventionen sein würden. Er gab nach und zog seine Schuhe aus. Hausschuhe bekam er selbstverständlich auch. In die Wohnung mit Schuhen? Bei einer Routinekontrolle der Heizkörper? Das geht nicht nur der Ordnung, sondern auch der türkischen Tradition wegen nicht. Willkommen im deutsch-türkischen Schmelztiegel. Es sind die kleinen, aber feinen Mentalitätsunterschiede, die meinen Alltag mit einer gewissen Spannung bereichern.
Manchmal aber auch Anspannung. Denn kaum war Ruhe eingekehrt, war meine Freundin wieder kurz davor, auf die Palme zu gehen. In mancherlei Hinsicht sind Deutsch-Türken eben doch sehr geprägt von Traditionen. Auch in unserer Wohnung kommt dies symbolträchtig zum Ausdruck. Hier und da hängt ein Nazar Boncuğu, um böse Blicke zu verjagen. Das verleitete den Handwerker dazu, meine Freundin zu fragen, ob sie denn Türkin sei. Bevor sie sich ausreichend erklären konnte (die Antwort bezüglich der Identität ist für sie nicht ganz einfach), schob er hinterher: „Hätte ich nicht gedacht. Dann sind sie wohl aber deutsch erzogen.“ Noch bevor sie wutschnaubend eine Gegenfrage stellen konnte, die die Diskussion nicht gerade besänftigt hätte, fragte ich ihn, ob er einen Kaffee wolle. Zu unserer Verwunderung antwortete er, dass er, wenn es ginge, einen Tee vorziehen würde. Das habe ihm in seinem letzten Türkeiurlaub ganz gut gefallen. Schon war meine Freundin wieder ganz begeistert. Der Handwerker hatte wohl binnen der letzten Minuten die Kunst der Appeasement-Politik verinnerlicht, glaubte ich. Wenn auch nur kurz. Denn wo kein Fettnapf war, platzierte der gute Herr selbst einen.
Die Türken seien ja bekannt dafür, dass sie es mit der Arbeit eher ruhig angehen lassen und einen „Çay“ (Tee) genießen. Die Heizkörper funktionierten, die Temperatur sank dennoch gefühltermaßen unter null. Selbst der Herr im Blaumann spürte die Irritationen. Das war ihm anzusehen. Er dachte sicherlich, er steht im Wald. Und dort wäre er nach Erzählungen meiner Familie nicht allein. Sondern in Gesellschaft der Peri. Eine Art Elfen, die insbesondere nachts ihr unsichtbares Dasein auf der Erde führen. Nach der Überlieferung können sie die Seele eines Menschen rauben. Deshalb ist ihnen und ihrem Territorium, der Natur, mit Respekt zu begegnen. Nachts im Freien urinieren ist somit tabu. Ein „destur“ kann bei zu großem Druck jedoch Schlimmeres vermeiden helfen. Also zumindest in Bezug auf die Peri.
Diese „Traditionen“ waren anfangs auch für mich gewöhnungsbedürftig (nunmehr faszinierend) – um den Installateur beim Thema interkulturelle Erfahrungen mal in Schutz zu nehmen (zumal ich ihm keineswegs unterstellen will, dass er in einem nächtlichen Racheakt in unseren Garten hätte pinkeln wollen). Mittlerweile zeigen auch meine Freunde großes Interesse daran, mehr über diese kulturellen Spezifikationen zu erfahren. So hat sich bei einigen zwar die unbedarfte Stillung des Harndrangs auf freiem Gelände noch nicht abgestellt, aber es wird dennoch begleitet von einem ernstzunehmenden „destur“. Was als Tradition praktikabel ist und was nervtötend, darüber herrscht bei uns jedoch keine innerfamiliäre Klarheit.
Mein Schwager sieht es als ein hergebrachtes Recht (oder vielmehr als ein Amüsement), in Geschäften verhandeln zu dürfen. Seine Gattin und meine Freundin bringt es eher gleichermaßen zur Weißglut. Meine Mutter wiederum kann sich damit recht gut anfreunden. Zumindest seit einem gemeinsamen Druckerkauf. Eigentlich hatte er sie dank seiner technischen Affinität begleiten sollen. Es kam anders. Sein Verhandlungsgeschick führte zwar nicht zu dem erwünschten Ergebnis, Farbpatronen kostenlos dazuzubekommen, dafür aber eine ordentliche Papierration. Das genügte, um meine Mutter nachhaltig zu begeistern.
Generell scheint sie sich zwischen den Kulturgrenzen recht wohlzufühlen. Zur großen Freude meiner Schwiegermutter zeigt sie Interesse daran, die ein oder andere türkische Floskel zu lernen. Und davon gibt es traditionell viele. Manches hat sie sich akribisch erarbeitet – im Zweifel mit Händen und Füßen. Und das manchmal sprichwörtlich. Dafür kommt das „eline sağlık“ (Danke im übertragenen Sinne) mittlerweile ziemlich routiniert, wenn sie bei meinen Schwiegereltern zum Essen ist. Meine Schwiegermutter platzt fast vor Stolz.
So auch am Tag unseres Malheurs mit dem Handwerker. Auch wir hatten uns noch zum Essen eingefunden. Und da meine Mutter gerade schon dabei war, ihr Vokabular zu erweitern, erklärte ihr meine Freundin trotzig „kolay gelsin – ein Ausspruch, um harte Arbeit zu würdigen. Das gebe es doch nicht ohne Grund, sagte sie, immer noch in Aufregung darüber, dass der Handwerker den Türken pauschal Müßiggang unterstellt hatte. So fasste sie es zumindest auf. Anne fand es den Erzählungen zufolge ebenso wenig lustig. Ihr Stolz auf ihre deutsche Heimat wird nur von ihrem Stolz auf die türkische Identität übertroffen. In seiner typischen Zurückhaltung konnte Baba die ganze Aufregung nicht verstehen. „Egal scheiße“, sagte er dazu nur. „Es heißt scheißegal“, korrigierte meine Freundin genervt. Anne hob ihm drohend die Faust entgegen. Weiterer Zank wurde nur dadurch unterbunden, dass meine Mutter noch zu einem Termin musste und sich schnell verabschieden wollte. Noch ganz in Gedanken versunken nahm meine Freundin sie in den Arm und sagte „haydi tschüß“. Meine Mutter sah sie irritiert an und wollte in ihrer Lernlaune heraus sogleich wissen, was das denn zu bedeuten habe? Anne schütte sich aus vor Lachen. Denn es handelt sich dabei um deutsch-türkisches Kauderwelsch für eine schnelle Verabschiedung. Dazu gibt es wohl nicht mal im Türkischen ein Pendant. Weil alle noch damit beschäftigt waren, sich darüber zu amüsieren, schnappte sich meine Mutter ihren Teller und räumt ihn selbst in die Küche. Anne reagierte darauf etwas geniert, weil es sich nicht ziemt, den Gast abräumen zu lassen. „Von wegen Gast, wir sind doch eine Familie“, sagt meine Freundin beschwichtigend. Das besänftigte Anne tatsächlich. Meine Mutter fügt hinzu: „Und Ordnung ist das halbe Leben!“ Die Damen lagen sich lachend in den Armen. Ne güzel (wie schön). Aktuell Meinung
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