Ab- und Ausgrenzungsrituale
Das Geschwätz von „Bringschuld“ und „Opfermentalität“
Bereits 1983 haben Lutz Hoffmann und Herbert Even ein theoretisches Konzept zum Thema Ausländerfeindlichkeit aufgestellt, das aus heutiger Sicht trotz einiger begrifflicher Schwächen im Wesentlichen kaum an Aktualität eingebüßt hat. Das theoretische Argument geht ungefähr so:
Von Coşkun Canan Dienstag, 27.11.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 30.11.2012, 8:04 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die Vorstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft über ihre Gesellschaft und ihrer Identität spiegeln ein bestimmtes Gesellschaftsbild wieder. Dieses Gesellschaftsbild begründet wirkmächtige Selbstverständlichkeiten, die kollektiv geteilt werden und den Hintergrund des alltäglichen Handelns bilden. Nicht alle Gesellschaftsmitglieder müssen ein bestimmtes Gesellschaftsbild teilen, sie sind aber dennoch davon betroffen, wenn andere ihren Interpretationen und Handlungen ein bestimmtes Gesellschaftsbild zugrunde legen.
Den Autoren zufolge ist nun jedem Gesellschaftsbild ein gewisses Maß an latenter Ausländerfeindlichkeit inhärent. So ist es z.B. selbstverständlich, dass ein Ausländer nicht sofort mit der Einreise den Inländerstatus erhält. Der Stellenwert der latenten Ausländerfeindlichkeit in einer Gesellschaft kann erst festgestellt werden, wenn sie in den manifesten Zustand übergeht. Dies geschieht mit der Ausländeranwesenheit und mit der Bewertung und dem Umgang dieser neuen Situation durch die Inländer.
Anhand von Leserbriefen, Politikeraussagen und Umfragen versuchen die Autoren, die damals vorherrschende Stimmung in einigen Teilen der Bevölkerung in Deutschland zu beschreiben. In diesem Zusammenhang fallen viele Begriffe, die auch in den heutigen Debatten immer wieder auftauchen: „Überfremdung“, „linke Meinungsmacher“, „Deutschenfeindlichkeit“, „archaisches Gebärverhalten“, „Gefahr für die christlich-abendländische Kultur Europas“. Darüber hinaus wird der gesellschaftliche Beitrag der Gastarbeiter angezweifelt und es werden die Verantwortlichen in Politik, Medien und Kirche für die wahrgenommene falsche Integrationspolitik beschuldigt.
Trotz alledem, der Ausländerstatus nähert sich Hoffmann und Even zufolge mit zunehmender Aufenthaltsdauer dem Inländerstatus an, denn zum Selbstverständnis eines modernen Staates und seines Gesellschaftsbildes gehören auch Vorstellungen wie die Gleichheit aller Menschen oder zwischenmenschliche Solidarität. Dieser Weg der formellen Annäherung ist allerdings für viele Ausländer mit Kränkungen und Diskriminierungen verbunden, die zur Ausbildung von Strukturen der Ausgrenzung wie regionale Segregation und Segmentierung sowohl im Bildungssystem als auch auf dem Arbeitsmarkt führen.
Unter solchen Migrationsbedingungen bietet ihnen die Selbstvergewisserung der „Herkunftsidentität“ sowohl Schutz als auch Orientierung. Die durch die manifeste Ausländerfeindlichkeit ausgelösten Zustände bilden dann wieder die Grundlage für neue, weitere ausländerfeindliche Argumente, die in der dogmatischen Ausländerfeindlichkeit münden. Bei der dogmatischen Ausländerfeindlichkeit entscheidet nun einzig und allein die Zugehörigkeit des Ausländers zu einer bestimmten Gruppe über dessen Integrationsfähigkeit.
Denn von den Ausländern, die trotz Benachteiligungen immer mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und sichtbar werden, wird erwartet, dass sie ihre nicht-deutschen kulturellen Gewohnheiten aufgeben und sich in die deutsche Kultur integrieren, sodass das althergebrachte Gesellschaftsbild vom Deutsch-Sein weiterhin Bestand hat. Diese Erwartungshaltung wird schließlich mit dem Begriff „Integrationschance“ geschmückt und wer ihr nicht genügt, wird als unintegrierbar abgetan. Den Autoren Hoffmann und Even zufolge eignen sich vor allem muslimische Türken für eine solche Kategorisierung der Unintegrierbaren, weil bei ihnen die größte Distanz zur eigenen Inländerkultur wahrgenommen wird.
Das war 1983. Nun sind fast 30 Jahre seit der Publikation „Die Belastungsgrenze ist überschritten“ vergangen und die gesellschaftliche Realität in Deutschland, die sich bereits damals im Wandel befand, hat sich grundlegend geändert. Aus den Ausländern sind Inländer geworden. Sie haben formell uneingeschränkt oder nahezu uneingeschränkt den Inländerstatus inne. Sie haben Identitäten entwickelt, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen.
Aber was ist mit dem Gesellschaftsbild passiert? Betrachtet man beispielhaft ein auf Muslime bezogenes Ergebnis der neusten Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, so stimmen 57,1% der Befragten der Aussage „Muslime und ihre Religion sind so verschieden von uns, dass es blauäugig wäre, einen gleichen Zugang zu allen gesellschaftlichen Positionen zu fordern“ überwiegend oder voll und ganz zu. Hier stellt eine Mehrheit der Befragten also das Gleichbehandlungsrecht von Muslimen infrage. Andere Studien zeigen, dass dieses Recht auf Gleichbehandlung auch in der Praxis all zu oft missachtet wird, sodass beispielsweise Personen mit nicht-deutsch klingenden Namen oder kopftuchtragende Frauen bei Bewerbungen um einen Arbeitsplatz systematisch diskriminiert werden.
Die Quintessenz ist, dass anscheinend in weiten Teilen der Bevölkerung in Deutschland ein Bild von der Gesellschaft vorherrscht, das einige Gruppen aufgrund der ihnen zugeschriebenen ethnischen oder religiösen Herkunft systematisch ausschließt, obwohl sich die gesellschaftliche Realität schon längst gewandelt hat. Das Geschwätz von „Bringschuld“ und „Opfermentalität“, das allzu gerne auch von einigen „Ach so gut integrierten Mitbürgern mit Migrationshintergrund“ übernommen wird, erweist sich in diesem Zusammenhang als ein weiteres Ab- und Ausgrenzungsinstrument. Lutz Hoffmann und Herbert Even erkannten jene Ausschlussmechanismen früh. Aktuell Meinung
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