Gaucks Rede zu Rostock-Lichtenhagen

Wie konnte der Staat so schnell und fahrlässig aufgeben?

Bundespräsident Joachim Gauck zu Rostock-Lichtenhagen: "Heute entzünden sich die Ängste an fremden Kulturen und Religionen, vor allem bei den muslimischen Zuwanderern." - MiGAZIN dokumentiert die Rede im Wortlaut.

Montag, 27.08.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 31.08.2012, 8:01 Uhr Lesedauer: 16 Minuten  |  

Es ist Vergangenheit, was uns heute hier in Lichtenhagen zusammenführt – was wir erinnern, was wir beklagen, was uns beschämt: Alles war vor zwanzig Jahren. Es ist Vergangenheit – das war mein erster Satz. Aber der zweite Satz heute kann nur lauten: Es ist die Gegenwart, die unsere Wachsamkeit, unsere Entschlossenheit, unseren Mut und unsere Solidarität braucht.

Und genau deswegen sind Sie alle hier, alle heute hierhergekommen! Auch die Kinder, die noch nicht geboren waren, als geschah, was leider bis heute für Rostock ein Brandmal ist. Ihre Anwesenheit heute hier ist ein Bekenntnis! Das Bekenntnis, Vielfalt wertzuschätzen, wachsen zu lassen und dabei in einem ganz wichtigen Punkt gleich zu sein: im täglichen Bemühen um ein gedeihliches, respektvolles, friedliches Miteinander.

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Dieses Bekenntnis ist das größte Geschenk, das sich Rostock an einem Tag wie diesem selber machen konnte! Das sage ich als Bundespräsident voller Zuversicht für diese Stadt. Aber ich sage es auch als Rostocker, der hier geboren wurde und Jahrzehnte hier gelebt hat und gar nicht weit entfernt von hier als Pastor gearbeitet hat, und der die immer wieder gestellte Frage kennt: Wie konnte es dazu kommen, dass ein ganz normales Stadtviertel, in DDR-Zeiten sogar ein Vorzeigeobjekt, zum Austragungsort brutaler Gewalt wurde – einer organisierten gewalttätigen Ausschreitung, bei der aus einer Menschenmenge ein Mob wurde, der den Tod von Angegriffenen billigend in Kauf nahm? Wie konnte es soweit kommen, dass die Gejagten zusätzlich noch gedemütigt wurden durch Tausende Hände, die der Hetzjagd applaudierten und eine Pogromstimmung erzeugten?

Wir können die größten ausländerfeindlichen Ausschreitungen in der Geschichte der Bundesrepublik nicht mehr ungeschehen machen. Umso mehr sind wir verpflichtet, die Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, nicht irgendwie Gras über sie wachsen zu lassen, sondern sie immer wieder zu betrachten, zu analysieren, um aus den Fehlern und Versäumnissen von damals zu lernen.

Denn Eines gilt es zu betonen: Es waren von Menschen gemachte, ganz besondere Umstände, in denen die Gewalt siegte. Die Zusammenstöße von Lichtenhagen kündigten sich monatelang an – sie waren nicht unvermeidlich. Und wir können sagen: Es war ein Wunder, dass niemand umgekommen ist.

Glücklicherweise sind ähnliche Übergriffe in den vergangenen Jahren in der Regel durch entschlossenes Handeln von Einsatzkräften und – was mir noch wichtiger ist – durch breite Bürgerbündnisse verhindert worden. An vielen Orten der Republik wurden seit den 1990er Jahren Vereine und Initiativen gegründet, damit Menschen in unserem Land nicht wieder um ihr Leben fürchten müssen.

Trotzdem haben sich uns Namen wie Solingen, Mölln, Hoyerswerda eingeprägt, über Jahre ermordete die Zwickauer Terrorzelle Bürger vor allem ausländischer Herkunft. All dies ließ uns aufschrecken: Es konnte wieder passieren. Menschen sind wieder Opfer fremdenfeindlicher und rechtsextremer Hetzjagden geworden. Insofern sehen wir: Die Ereignisse von Lichtenhagen sind zwar Vergangenheit. Aber die Gegenwart bleibt infiziert von Fremdenfeindlichkeit, Hass, Gewalt.

„Bitter ist mir auch bis heute, dass die anschließende Aufarbeitung der Geschehnisse oftmals Gefahr lief, sich mit vordergründigen Erläuterungen zu begnügen und so von vielen als Beschwichtigungen verstanden wurde.“

Da wir dieses belastende Wissen in uns tragen ist es mir besonders wichtig, Sie hier begrüßen zu können, sehr geehrter Herr Nguyen Do Thinh: Sie lebten damals in dem elfstöckigen Gebäude, aus dem die Flammen schlugen, Sie hörten die johlende, Beifall klatschende Menge unten auf der Straße, Sie spürten den Rauch in die oberen Stockwerke dringen, Sie hatten Todesangst. Wenn ich auf die Geschehnisse blicke, die Brutalität, ja Mordlust der Tage vor 20 Jahren, nötigt es mir umso größeren Respekt ab, dass Sie, Herr Nguyen Do Thinh, in meiner, in Ihrer, in unserer Stadt geblieben sind und den Verein „Diên Hồng – Gemeinsam unter einem Dach“ gegründet haben. Sie machen unserer Heimatstadt, sie machen Rostock mit Ihrem Bekenntnis ein wunderbares Geschenk. Dafür bin ich dankbar. Als Sie die deutsch-vietnamesische Begegnungsstätte eröffneten, klang der Name dieser Stätte noch wie eine unerreichbare Illusion. Inzwischen gehört Diên Hồng zu den wichtigsten Stätten des Miteinanders der Region. Wer heute dort Beratung und Bildung sucht, wird fachmännisch betreut, ungeachtet dessen, woher er stammt und welcher Nationalität er angehört. Und andere Institutionen und Bundesländer nehmen sich ein Beispiel an dem, was hier schon gelungen ist und erprobt wurde.

Was vor 20 Jahren in Lichtenhagen geschah, erzürnt mich – den Rostocker wie den Bundespräsidenten – und schmerzt mich bis heute. Und es prägt sich meinem Realismus neu ein, was ich hier heute erlebe. Trotzdem trifft zu: Wir haben solchen Institutionen geschaffen, haben viel erreicht. Es erzürnt mich, dass gewalttätige Jugendliche aus Rostock, unterstützt von Randalierern und Rechtsextremen aus Ost- und Westdeutschland, ihrem Hass und ihren Ressentiments tagelang freien Lauf lassen konnten. Es erzürnt mich noch mehr, dass Anwohner den Mob anfeuerten, die Gewalttäter vor der Polizei schützten und klammheimliche Freude darüber empfanden, dass es „den Ausländern mal so richtig gezeigt wird“ – dabei handelte es sich um Menschen, die selber Opfer unguter Umstände waren.

Es hat mich zudem nachhaltig erschreckt, als ich damals in den 1990er Jahren erkennen musste, dass die Fremdenfeindlichkeit bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist.

Ich weiß, dass in Lichtenhagen, in Rostock, wie überall in der DDR viele Menschen nach der Wiedervereinigung arbeitslos wurden, dass sie sich als Verlierer sahen, enttäuscht waren über die Zustände im neuen Deutschland, in dem sie – anstatt zu Wohlstand zu gelangen – häufig sozial abrutschten. Ich weiß, dass sich viele tief verunsichert fühlten, orientierungslos in der neuen Freiheit, überfordert mit den unzähligen und einschneidenden Veränderungen, ungeübt in der Übernahme von Verantwortung. Ich weiß, dass bei manchen Menschen die Furcht vor der Freiheit umschlug in Wut und Aggression. Die Entstehung solcher Gefühle kann man erklären. Aber unsere Erfahrung lehrt: Wenn Hass entsteht, wird nichts besser, aber alles schlimmer. Hass darf als Mittel der Konfliktlösung niemals geduldet sein!

Wir spüren noch heute, wie wir es immer spüren werden: Eine völlig von allem Dunklen und Bösen „gereinigte“ Gesellschaft wird es nie geben – nach all unseren Erfahrungen widerspricht sie der Natur des Menschen. Mit Aggression, Hass, Wut, Groll, Zorn reagieren Menschen auf tatsächliche oder angenommene Kränkung, auf Verletzung, Unterdrückung und Unrecht. Dunkles und Böses lassen sich allerdings durch Vernunft, Empathie und Solidarität eindämmen, notfalls auch durch das Gesetz. Denn Hass, der nicht zurückgedrängt wird, wirkt seinerseits verletzend, unterdrückend, ja zerstörerisch.

Eine völlig gereinigte Gesellschaft werden wir also nicht erreichen können, eine solidarische Gesellschaft aber sehr wohl. Hass macht auch blind. Er sucht oft nicht nach den wirklich Verantwortlichen, sondern richtet sich gegen Menschen, die als Sündenböcke herhalten müssen – wie damals in Lichtenhagen: Menschen, die sich abgehängt fühlten, reagierten sich gewaltsam an Wehrlosen ab, die für sie schlicht und einfach noch unter ihnen standen. Hass und Gewalt untergraben und zerstören das wichtigste Fundament eines Gemeinwesens: das Miteinander der unterschiedlichen Vielen und den Respekt vor der Menschenwürde eines jeden Einzelnen.

Das hat nicht wenige Menschen in Rostock schon damals entsetzt und geschmerzt. „Wir Lichtenhäger – schrieben sie in einem Friedensgebet nach den Ausschreitungen – klatschen nicht Beifall, wir sind verzweifelt.“ Sie waren verzweifelt, weil sie in dieser zugespitzten Situation als einfache Bürger keine Möglichkeit mehr zu einem Eingreifen mehr sahen. Sie standen der entfesselten Gewalt hilflos gegenüber und konnten nur noch ihren Abscheu, ihren Protest, ihr DAGEGEN dokumentieren: „Kein Totschlag! Keine Verletzung, keine Zerstörung! Lass die Gewalt enden. HERR, hilf uns!“ Worte von damals. Auch an diese besonnenen Menschen, die sich einig waren, dass in unserer Demokratie Konflikte allein mit friedlichen Mitteln zu lösen sind, möchte ich heute erinnern. Ihnen gelten meine ausdrückliche Anerkennung, meine Freude und mein Dank! Leitartikel Politik

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