Wulffs Rede
„Wir haben es nicht für möglich halten wollen“
Bundespräsident Christian Wulff hat am 20. Januar 2012 anlässlich des 70. Jahrestags der Wannsee-Konferenz eine Ansprache in der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz gehalten. MiGAZIN dokumentiert die Rede im Wortlaut:
Montag, 23.01.2012, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 25.01.2012, 8:52 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Dieser Ort hat eine seltsame Ausstrahlung, die wohl jeden erfasst, der einmal hier am Wannsee durch diese Räume gegangen ist und sich über die Ausstellungsstücke gebeugt hat, die hier zu sehen sind.
Da ist auf der einen Seite diese schöne Idylle, der Wannsee, ein Ausflugsziel seit Generationen, ein Ort der Heiterkeit, der Entspannung, der Ausgelassenheit. Ein Ort, an dem Erinnerungen vieler Menschen spielen, an Segeln und Schwimmen, an verliebte Stunden zu zweit, an endlos lange Sommerabende am Wasser. Solche Erinnerungen teilten die Berliner in der Zeit vor dem Nationalsozialismus, dem Krieg und dem Holocaust und zwar ohne jeden Unterschied.
Ob sie Christen oder Juden waren, reich oder arm, junge oder alte: Der Wannsee in Berlin mit seiner Idylle war immer ein Ort für alle gewesen, ein Ort für glückliche Stunden für jedermann, in guten und in schlechten Zeiten. Nirgendwo wurde diese Lebensfreude am Wannsee über alle Unterschiede hinweg schöner ins Bild gesetzt als im Film „Menschen am Sonntag“.
Dieser Film von 1930 ist wesentlich mitgestaltet worden von Samuel Wilder, damals jüdischer Drehbuchautor in Berlin-Schöneberg, später, nach seiner Flucht 1933, unter dem Namen Billy Wilder weltberühmter Regisseur von Klassikern wie „Eins, zwei, drei“ oder „Zeugin der Anklage“.
Mancher Berliner Jude, manche Berliner Jüdin, die vom Gleis 17 am Bahnhof Grunewald die Transporte in die Vernichtungslager besteigen mussten, hatte sicher Erinnerungen an unbeschwerte Tage am Wannsee – so wie fast alle Berliner eben. Dieser Ort und der Name Wannsee ist zum namentlichen Symbol geworden für die bürokratisch organisierte Unterscheidung von lebenswertem und lebensunwertem Leben, für staatlich organisierte Vernichtung, für die geplante und behördlich systematisierte Tötung der Juden Europas. Dieser Ort ist zu einem Ort der kalten Grausamkeit geworden, Auslöser der Vollstreckung eines systematischen Völkermordes, ein Ort deutscher Schande.
Am 20. Januar zur Mittagszeit trafen sich hier vor siebzig Jahren fünfzehn Spitzenbeamte des NS-Regimes und formulierten in Eiseskälte ohne Skrupel, ohne Hauch von Menschlichkeit das mörderische Vorgehen der sogenannten „Endlösung“.
Je mehr wir uns dieses Nebeneinander von Idylle und absolutem Schrecken, von Unbeschwertheit und erbarmungslosem Vernichtungswillen vor Augen halten – desto weniger können wir verstehen, was geschehen ist. Und je weiter die Zeit vergeht, um so weniger können wir uns vorstellen, dass das und wie das wirklich geplant und geschehen ist: die Vernichtung der Juden Europas.
Darum ist es wichtig und eine nationale Aufgabe, dass wir die Erinnerung wach halten. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieses Unvorstellbare wirklich geschehen ist.
Deswegen ist es so notwendig, dass in Deutschland zahlreiche Gedenkstätten auch die nachfolgenden Generationen an das Entsetzliche erinnern, das von unserem Land ausgegangen ist. Seit zwanzig Jahren leistet auch dieses Dokumentationszentrum hier hervorragende Arbeit. Dafür sage ich allen Beteiligten Dank. Sie erfordert einen besonderen Einsatz.
Hier, in dieser Gedenkstätte, ist es nachlesbar, anschaubar: Hier wurde die Koordinierung aller staatlichen Stellen zu dieser Vernichtung beschlossen. Hier wurde das unerhörte und unfassbare Menschheitsverbrechen in Verwaltungsakte deutscher Bürokratie umgesetzt. Die Lektüre des Protokolls, verfasst von Adolf Eichmann, raubt, so bin ich überzeugt, jedem bis heute den Atem.
„Wir haben es alle nicht für möglich gehalten. Einschließlich der Polizei und der Sicherheitsorgane haben wir alle es auch nicht für möglich halten wollen, dass es das in unserem Land und in dieser Zeit gibt.“
Dieser Mord an den europäischen Juden und der Versuch der Vernichtung ihrer Kultur bedeutet die niedrigste Stufe, auf die deutsche Kultur je sinken konnte. Vernichtet werden sollten ausgerechnet die Juden, denen unsere Kultur so viel verdankte, und für die der Name des vertriebenen Billy Wilder nur als ein Beispiel Zehntausender Kulturschaffender steht.
Um nicht zu vergessen, ist es gut, sich einzelne Schicksale und Namen vor Augen zu führen. Vor einiger Zeit hatte ich im Schloss Bellevue die neunzigjährige Margot Friedlander zu Gast. Sie hat jungen Leuten und mir aus ihren Erinnerungen vorgelesen. Beim Präsidenten jenes Landes, dessen Machthaber und Helfer sie einst umbringen wollten und fast alle ihrer Familienangehörigen und Freunde tatsächlich umgebracht haben – aufgrund der Planungen in dieser Villa am Wannsee.
Es war in diesem Land Deutschland, in dieser Stadt Berlin, in der man ihr und allen Juden nach dem Leben trachtete. Es war in der Skalitzer Straße 32, damals wie heute leicht zu finden, wo die Gestapo gemäß den Beschlüssen der Wannsee-Konferenz auf das Mädchen Margot wartete. Es war kein böser Traum: es war ein wirklicher Ort, ein wirklicher Tag, an dem sie sich in letzter Sekunde zu Nachbarn flüchten konnte, um anschließend in Angst und im Versteck zu leben und – welch großes Glück – zu überleben.
Ich erinnere auch an die Geschichte von Minister Peled, der heute unter uns ist, und der als Kind den Holocaust nur überlebt hat, weil er durch christliche Adoption gerettet worden ist. Wer, Herr Minister, kann schon wirklich Ihre Gefühle nachempfinden, wenn Sie heute hier sind und zum ersten Mal das Kaddish für Ihren Vater sprechen?
Der Antisemitismus des Staates wurde genährt und gestützt vom Antisemitismus in der Gesellschaft. Eine Mischung aus Neid, aus Hass, aus Unterlegenheitsgefühlen und Überlegenheitswahn, aus religiöser und rassistischer Verblendung machte diesen Antisemitismus aus. Spätestens am 20. Januar 1942 wurde aus dem Antisemitismus der Gesellschaft ein staatlich-bürokratisches Projekt, das mit umfassender Gründlichkeit vollstreckt werden sollte.
Und spätestens jetzt, mit den Sammlungen und Transporten 1942 wurde für jeden, der offenen Auges durch die Welt ging, offenbar, welches Schicksal auf die deutschen und europäischen Juden wartete. Viele in der Gesellschaft waren entsetzt, aber noch viel mehr blieben gleichgültig, viele waren grausame Täter.
Mehr als alles andere ist es die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Nächsten, das Unglück und Leid erzeugt und verstärkt. Wir alle leben von der Hilfe füreinander, nicht erst, wenn es um Leben und Tod geht – das muss uns eine der wichtigen Lehren sein.
Daran müssen wir gerade in diesen Tagen schmerzlich denken, seit wir wissen, dass eine Bande von rassistischen Mördern durch unser Land gezogen ist, um Menschen mit nichtdeutscher Herkunft zu töten. Wir haben es alle nicht für möglich gehalten. Einschließlich der Polizei und der Sicherheitsorgane haben wir alle es auch nicht für möglich halten wollen, dass es das in unserem Land und in dieser Zeit gibt.
Uns erfüllt Scham und Zorn. Und uns bewegt der Wille, die Taten aufzuklären, die Helfer und Unterstützer zu finden und vor Gericht zu stellen, die Netzwerke zu zerstören, die diesen mörderischen Wahn ermöglicht haben.
Uns bewegt die Anteilnahme an der Trauer der Verwandten und Freunde der Opfer. Ihnen, aber auch allen versprechen wir: Wir werden alles tun, damit Terror und mörderischer Hass auf Fremde und Fremdes in Deutschland nie mehr Platz haben. Es liegt mir viel daran, das gerade heute und hier zu sagen!
Meine Damen und Herren, heute beginnt hier eine Historiker-Konferenz mit internationalen Teilnehmern. Ich begrüße Sie sehr herzlich, ich bin froh, dass Sie das Licht der Aufklärung und der historischen Erkenntnis auf dieses dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte richten. Einer der ganz großen Meister des literarischen Gedächtnisses, György Konrád, hat gestern beeindruckend gesprochen und vortragen lassen, wie ich gehört habe. Auch dafür Dank.
Wir brauchen die Erinnerung, aber auch die Entschlossenheit zur Verteidigung von Menschenwürde und Menschenrechten. Nie mehr sollen sich Menschen wie Margot Friedlander vor ihren eigenen Landsleuten verstecken müssen.
Für viele jüdische Bürger war Deutschland Heimat, ihr Zuhause. Und ich sage den Juden in der Welt: wenn und wo jüdische Bürger verfolgt werden oder in Gefahr sind: Deutschland fühlt sich ihnen nah und verbunden. Und Deutschland steht unverbrüchlich an der Seite Israels.
Unser aller gemeinsames Ziel muss es sein – und Deutschland tritt dafür ein –, dass alle Menschen unbeschwert und frei miteinander leben, lachen und glücklich sein können: hier, am Großen Wannsee in Berlin, überall in unserem Land und überall in der Welt. Aktuell Politik
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