Christian Wulff

„Es tut mir weh, wenn ich höre: ‚In diesem Land bleibe ich Ausländer, egal, welchen Pass ich besitze.“

Am 30. September 2011 fand in Deutschland eine Premiere statt. Bundespräsident Christian Wulff lud anlässlich einer Einbürgerungsfeier in das Schloss Bellevue ein. MiGAZIN dokumentiert seine Rede im Wortlaut:

Montag, 17.10.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 20.10.2011, 7:38 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass eine Einbürgerungsfeier in Schloss Bellevue stattfindet. Sie alle sind also Teil einer Premiere.

Wenn ich mich so umschaue, kann ich nur sagen: Es ist schön, in so viele neue deutsche Gesichter zu schauen! So viele kluge, engagierte Menschen aus aller Welt – die jetzt gleich deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger werden!

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Für die meisten hier im Saal ist Deutschland allerdings kein Neuland. Viele von Ihnen leben schon seit Jahren, manche seit Jahrzehnten hier. Einige sind sogar hier geboren. Sie wissen also, worauf Sie sich eingelassen haben – auf ein wunderbares, wenn auch nicht ganz einfaches Land.

„Kommenden Montag wird in der Bundesrepublik zum 21. Mal der Tag der Deutschen Einheit begangen – und sicher werden viele Deutsche wie üblich die Gelegenheit nutzen, um über ihr Land zu meckern.“ Das schreibt der Autor Bernhard Pötter unter der Überschrift „Das ungelobte Land“ in der taz. Und weiter: „Nach fünf Jahren im Ausland muss ich allerdings sagen: Es lebt sich gut in Deutschland. Ich bin nicht stolz, ein Deutscher zu sein – schließlich habe ich dafür nichts geleistet. Aber ich kenne ein paar kluge, gebildete Menschen im Ausland, die mich um meinen Pass beneiden. Mein Vorschlag: ein ‚Freiwilliges ausländisches Jahr’ für alle. Danach würde die Zufriedenheit mit dem Hier und Jetzt deutlich ansteigen. Ich jedenfalls würde sofort wieder aus Deutschland wegziehen. Aber nur mit Rückfahrkarte.“

„Es tut mir weh, wenn ich höre: ‚In diesem Land bleibe ich Ausländer, egal, welchen Pass ich besitze.‘ Oder dass Stellenbewerber mit ausländisch klingenden Namen – bei gleichen Noten und gleich guten Leistungen – schlechtere Chancen haben.“

Unser Land hat aus seiner Geschichte gelernt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – das ist unser oberstes Verfassungsprinzip. Sie bekennen sich heute dazu. Es sollte Richtschnur für uns alle sein, die wir in Deutschland zusammen leben. Wir sind stolz auf Deutschlands Dichter und Denker, auf seine Wissenschaftler, Erfinder und Unternehmer. Sie haben mit ihren Ideen weit über unsere Grenzen hinaus gewirkt. Viele folgen heute ihrem Beispiel – darunter zum Glück immer mehr Frauen und immer mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Man könnte auch sagen: „Migrationsvordergrund“ – denn es ist ja ein großer Vorteil, über verschiedene sprachliche und kulturelle Erfahrungen zu verfügen.

Gemeinsam prägen wir das Gesicht Deutschlands im 21. Jahrhundert – Sie von heute an auch als deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Dazu gratuliere ich ganz herzlich!

Vieles steht Ihnen fortan offen: Sie dürfen wählen und sich wählen lassen, mitbestimmen über unsere gemeinsame Zukunft in diesem Land. Sie haben das Recht, sich niederzulassen, sich selbständig zu machen, Ihren Beruf frei zu wählen, innerhalb der Europäischen Union und in zahlreiche Länder der Welt ohne Visum zu reisen – und noch vieles mehr.

Einiges wurde und wird Ihnen für diese Einbürgerung abverlangt: wenn nötig Deutsch zu lernen, die Verfassung und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland zu studieren. Für manche von Ihnen war es ein langer Weg bis zu diesem Tag – durch viele Behördengänge und vielleicht auch einige innere Entscheidungskonflikte hindurch. Oft haben Sie für den deutschen auf Ihren ursprünglichen Pass verzichtet.

Umso mehr freue ich mich über Ihre Entscheidung, Deutsche zu werden. Sie ist keine Abkehr von Ihrer Vergangenheit, von Ihrer Familiengeschichte oder Ihrer Herkunft. Sie ist ein Bekenntnis zu Ihrer – und unserer gemeinsamen – Zukunft: Diesem Land fühle ich mich verbunden, hier übernehme ich meinen Teil der Verantwortung fürs Ganze: für mich, für meine Kinder, für unser Gemeinwesen.

So, wie es in einer guten Partnerschaft wichtig ist, Unterschiede zu akzeptieren, aber eine gemeinsame Grundlage zu haben, gibt es auch für ein gutes Zusammenleben in Deutschland zwei unverzichtbare Bedingungen: Offenheit und Respekt.

Respekt vor den Errungenschaften unseres Landes und vor seinen Werten: dass jeder seinen Glauben, seine politischen Ansichten, seinen persönlichen Lebensentwurf frei leben darf, dass Mädchen und Jungen gleiche Rechte und Chancen haben, dass sie ihre Talente und ihre eigene Urteilskraft frei entwickeln dürfen, dass die Mehrheit entscheidet, dass alle, auch der Staat, an Recht und Gesetz gebunden sind, dass Meinungsverschiedenheiten mit Argumenten und unter gleichberechtigten Partnern ausgetragen werden, dass Minderheiten geachtet werden und niemand diskriminiert werden darf, dass die Gemeinschaft diejenigen auffängt, die aus eigener Kraft nicht genügend zum Leben haben.

„Denn die Zukunft, da bin ich mir sicher, gehört den Nationen, die offen sind für kulturelle Vielfalt, für neue Ideen und für die Auseinandersetzung mit Fremden und Fremdem.“

Das alles ist sehr wertvoll. Wie wertvoll, das wissen vielleicht diejenigen von Ihnen am besten, die aus Ländern stammen, die diese Werte nicht achten. Es ist wichtig, dass wir sie gemeinsam verteidigen.

Ich zähle dabei auch auf Sie. Jeder Einzelne kann mithelfen, anderen das Gefühl zu geben: dies ist unser Land, unsere Heimat, und sie ermutigen, sich hier einzubringen.

Das Gefühl, dazuzugehören, speist sich aus vielen Wurzeln: zunächst einmal aus der eigenen Bereitschaft, dazugehören zu wollen. Aber auch aus motivierenden Begegnungen in der Schule, in der Nachbarschaft, in Behörden, in der Öffentlichkeit. Aus der Erfahrung, als Mensch angenommen und unvoreingenommen behandelt zu werden. Das meine ich mit Offenheit.

Ich sage Ihnen offen, als Ihr Bundespräsident: Es tut mir weh, wenn ich höre: „In diesem Land bleibe ich Ausländer, egal, welchen Pass ich besitze.“ Oder dass Stellenbewerber mit ausländisch klingenden Namen – bei gleichen Noten und gleich guten Leistungen – schlechtere Chancen haben. Nicht Hautfarbe, Name oder Herkunft dürfen zählen, sondern ausschließlich Leistung, Können und Engagement!

Deutschland war die meiste Zeit seiner Geschichte ein offenes Land, über lange Zeit als Staat gar nicht existent, eher ein Kulturraum als eine Nation, vielfach Auswanderungs- und Einwanderungsland zugleich. Es ist sehr spannend zu sehen, wie viele Deutsche ausgewandert sind im Laufe der letzten Jahrhunderte. Nach Amerika, nach Brasilien, nach Osteuropa. Was sie sich dort aufgebaut haben. Und welchen Schwierigkeiten sie begegnet sind. Zum Beispiel war die Frage, ob Englisch oder Deutsch die Sprache Nordamerikas werden würde, lange nicht ausgemacht!

Heute, zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, inmitten eines Europas ohne Grenzen, ist es offener denn je. Wer deutsch ist, das lässt sich schon längst nicht mehr am Namen oder am Äußeren ablesen. Wenn wir künftig „wir“ sagen, sollten wir damit alle meinen, die wir hier dauerhaft zusammenleben – wo auch immer unsere Vorfahren herstammen mögen. Wir sollten weniger fragen, woher einer kommt. Sondern: Wo wollen wir gemeinsam hin?

Ich bin zuversichtlich, dass das gelingt. Deutschland verändert sich, es wird vielfältiger und weltgewandter – und Sie sind ein willkommener Teil dieser Veränderung. Sie bringen Ihre Familiengeschichten und Sprachen ein, Ihre Kulturen und Traditionen, Ihre Fähigkeiten und Ihre Träume, Ihre Ideen und Werte – und damit vieles, was unser Land gut gebrauchen kann. Wir werden dadurch bereichert.

„Wo auch immer Sie herkommen, ob und an welchen Gott Sie glauben, welches Ziel Sie verfolgen im Leben: Jeder Einzelne von Ihnen ist ein Teil des Ganzen, und jeder Einzelne trägt Verantwortung für unser Land – ein Land, in dem wir zusammenleben können als Gleiche und doch Verschiedene.“

Denn die Zukunft, da bin ich mir sicher, gehört den Nationen, die offen sind für kulturelle Vielfalt, für neue Ideen und für die Auseinandersetzung mit Fremden und Fremdem. Das habe ich übrigens genau so vor knapp einem Jahr am Tag der Deutschen Einheit gesagt. Auf meine Rede hin habe ich knapp viertausend eher kritische Zuschriften bekommen. Aber auch wunderbare Dankbriefe, gerade von „neuen Deutschen“.

Da schreibt einer: „Für uns Immigranten haben Sie eine große emotionale Hürde beiseite geschafft und einen Weg ins Herz Deutschlands gewiesen.“ Ein Anderer: „Nach Ihrer Rede hat sich in mir die Gewissheit verfestigt, dass ich ein Teil dieses Landes bin und dass dieses Land ein unzertrennbarer Teil von mir war, ist und sein wird.“ Und noch ein anderer: „Wir als Gastarbeiterkinder haben genau dieses Signal bisher vermisst. Nämlich, dass wir anders sind, aber immer noch deutsch.“

Deutsch, und doch anders – das trifft auf uns alle zu. Sie werden jetzt Deutsche – und damit zugleich, wenn Sie es noch nicht sind, auch Bürger der Europäischen Union. Aber Sie bleiben noch vieles anderes, denn die geografische oder ethnische Herkunft ist ja nur eine der vielen Facetten, die uns als Individuum ausmachen. Wo auch immer Sie herkommen, ob und an welchen Gott Sie glauben, welches Ziel Sie verfolgen im Leben: Jeder Einzelne von Ihnen ist ein Teil des Ganzen, und jeder Einzelne trägt Verantwortung für unser Land – ein Land, in dem wir zusammenleben können als Gleiche und doch Verschiedene.

Unsere heutige Zusammenkunft erinnert mich ein bisschen an den Film „Almanya – Willkommen in Deutschland“ – vielleicht haben Sie ihn auch gesehen. Er erzählt die Geschichte einer türkisch-deutschen Familie über mehrere Generationen – vom Anwerbeabkommen mit der Türkei vor fünfzig Jahren bis heute. Der Film endet mit einem Empfang bei der Bundeskanzlerin in Schloss Bellevue – da stimmen die Fakten nicht ganz, aber egal – und bei diesem Empfang spricht der kleine Enkel Cenk an der Stelle seines verstorbenen Großvaters. Am Ende sagt er: „Manchmal ist es gut, manchmal ist es schlecht. Aber jetzt bin ich glücklich. Früher hätte ich das nie gedacht.“

Heute beginnt Ihr Leben als deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger – ich wünsche Ihnen alles Gute und sage nochmals: herzlich willkommen! Aktuell Politik

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  1. MoBo sagt:

    Eigentlich nicht schlecht, nur an einer Stelle wird leider eine Legende weitererzählt:

    “ Zum Beispiel war die Frage, ob Englisch oder Deutsch die Sprache Nordamerikas werden würde, lange nicht ausgemacht!“

    Völliger Blödsinn. Quelle(n):
    http://de.wikipedia.org/wiki/Muhlenberg-Legende

  2. Zensus sagt:

    Und mir tut es weh, wenn ich sehe: ‘In diesem Land bleibe ich ein Ignorant, egal welchen Posten ich besitze.”
    Ein Ignorant ist so jemand, der 4000 Bedenken von Deutschen beiseite schiebt und nur die eigene Lobhudelei von Ausländern beachtet.
    Ein Ignorant ist kein Präsident der Bundesrepublik Deutschland.

  3. Der Kritiker sagt:

    @Zensus: Leider hat in der Tat ein Ignorant die Stelle des Präsidenten inne!

  4. Edina sagt:

    Christian Wulf ist ein toller Präsident

  5. Non-EU-Alien sagt:

    Eigentlich sehr schöne Worte! Bemerkenswert und finde ich gut…

    Aber wenn man die Verfassung schon zitiert, dann sollte man doch auch mal über den dritten Artikel nachdenken und sich fragen, warum dieser m. E. bei der Einbürgerungspraxis keine Anwendung findet! Es wird nämlich sehr wohl nach Herkunft unterschieden, was die Hinnahme von Mehrstaatigkeit angeht, und dies müsste doch ein ausgebildeter Jurist wissen…

  6. Caspar sagt:

    Mashallah! Wulff ist der Präsident der Neudeutschen.

    Leider ist er nur Bundespräsident :-(

    Von daher: Wulff for Bundeskanzler!!!! Nur so kann et wat werden.

  7. Şükrü Timur sagt:

    Herr Wulf,Sie meinen,“Die Würde des echte Deutschen ist unantastbar“! Eure Richtschnur und einzige Aufgabe ist, die in Deutschland lebenden,gescheiten Emigranten und sogenannten „anpassungsfähige Menschen“ zu verarmen, verfolgen und aus der Gesellschaft isolieren!! Ihre bunten Regenbogenmärchen können Sie Ihren Kindern erzählen ! Vielleicht werden Sie glaubwürdig und wahrhaftig!

  8. Mika sagt:

    @Caspar

    Als Wulff Bundespräsident wurde, wusste ich sofort, was dahinter steckte: Angie hatte ihn seinerseit als Bundespräsident vorgeschlagen, damit er ihr nicht in die Quere kommt. Er war einer der aussichtsreichen Kandidaten des Bundeskanzlers, und er hätte auch die Wahl gewonnen!