Fachkräftemangel in der Migrantenperspektive
“Deutschland hat mich müde gemacht”
In der deutschen Integrationsdebatte setzt sich zunehmend die Einsicht durch, dass Migranten für den deutschen Standort eine bedeutende Ressource darstellen. Eine quasi-automatische Projektion in die Zukunft wäre aber ein Irrtum.
Von GastautorIn Donnerstag, 11.11.2010, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 17.11.2010, 0:31 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die deutsche Integrationsforschung und -politik sind defizitorientiert. In ihrem Fokus stehen die so genannten Risikogruppen. Tenor: Die Migranten sind arm, bildungsfern und hilfebedürftig; mit einer Leitkultur als Köder am Haken muss man sie aus ihren Parallelgesellschaften befreien, damit sie an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung teilnehmen können.
Die Türkisch-Deutsche Industrie- und Handels- kammer (TD-IHK) wurde unter Mitwirkung hochrangiger Politiker aus Deutschland und der Türkei im Jahr 2004 gegründet. Die TD-IHK kümmert sich um die bilateralen Wirtschaftsbezieh- ungen beider Länder. Sie vertritt die Interessen und Anliegen von über 80.000 deutsch-türkischen Unternehmen. Darüber hinaus nimmt sie in der Arbeitsmarktintegration von türkischstämmigen Jugendlichen Aufgaben wahr. Weitere Infos: www.td-ihk.de
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Wie auch immer, der inzwischen viel beachtete Fachkräftemangel könnte ein Ventil sein, um die Arbeitsmarktlage der Migranten zu verbessern. Suat Bakir (40), Geschäftsführer der TD-IHK (siehe Info), sieht eine großartige Chance für die in Deutschland lebenden jugendlichen Migranten und eine Gelegenheit, „die Bildungsmisere in dieser Bevölkerungsgruppe umzukehren“. Diese Vorstellung ist in der Tat verführerisch und wünschenswert: das demografische Erdbeben als reinigendes Gewitter, mit dem viele Probleme weggespült werden könnten, die in der Integrationspolitik vorherrschen.
Emin Capraz (36), gebürtiger Düsseldorfer mit türkischen Wurzeln und ausgebildeter Jurist, relativiert den Optimismus, wenn es um den Effekt des Fachkräftemangels für die Migranten geht: „Ich glaube schon, dass unter den gut ausgebildeten Landsleuten das Thema erkannt ist. Aber auf der anderen Seite weiß man auch, dass man als Deutscher mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt – sagen wir mal – eine Bürde mit sich trägt, wodurch die Chance, die sich durch den Fachkräftemangel ergibt, minimiert wird.“
Der Jurist Capraz und der Geschäftsführer Bakir weisen auf dasselbe Problem hin, bewerten es aber unterschiedlich. Der eine ist geprägt durch seine persönlichen Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt, der andere ist nicht nur von Berufs wegen ein Optimist. Aber beide machen auf ihre jeweilige Art klar, dass ein positiver Effekt des Fachkräftemangels auf die Integrationspolitik eintreten könnte, wenn Barrieren auf dem Arbeitsmarkt und in der Bildung überwunden werden.
Die Migrantengruppen weisen unterschiedliche Qualifikationsstrukturen auf. So gibt es in den ehemaligen Anwerbeländern weniger Personen, die als hochqualifiziert gelten, als in Ländern, die dem ehemaligen Ostblock angehören. Hochqualifiziert bedeutet nicht zwingend, dass die hochqualifizierten Migranten einer Beschäftigung nachgehen. So gelten zum Beispiel 41 Prozent der Ukrainer als hochqualifiziert, trotzdem bezieht ein Fünftel von ihnen Leistungen nach Arbeitslosengeld I und II. Auch ihre Erwerbstätigenquote ist mit 31,8 Prozent die niedrigste unter den Migrantengruppen.
Es darf in diesem Zusammenhang vermutet werden, dass sie ihre Abschlüsse in ihrem Heimatland gemacht haben und diese hier nicht anerkannt werden. Ein anderes Bild zeigt sich bei Rumänen. Dort gehen über 50 Prozent einer Beschäftigung nach, während lediglich 1,5 Prozent von ihnen sozialstaatliche Transferleistungen beziehen.
Die Ausführungen zur Qualifikationsstruktur von Migranten in Deutschland führen vor, dass mit dem bloßen Eintreten des Fachkräftemangels keine automatische Problemlösung erwartet werden darf. Die Zahlen fordern weiterhin aktive Integrationsanstrengungen – um genau zu sein: nicht nur die Fortsetzung der begonnenen Arbeit, sondern auch ihre Intensivierung.
Suat Bakir weist auf einen neuen Aspekt hin: „Die türkische Wirtschaft wächst seit Jahren rasant. Und immer mehr Unternehmen aus der Türkei investieren in Deutschland. Sie schätzen die ‚deutschen‘ Fachkräfte, die sie nicht nur benötigen, sondern auch am deutschen Standort erwarten.“
Es wäre aber auch zu kurzsichtig, wenn man glaubt, dass mit der bloßen Umsetzung der aktiven Integrationsarbeit die drängenden Probleme in der deutschen Integrationspolitik überwunden werden. Der Erfolg dieser Integrationsarbeit wird durch die kognitiven Denkmuster, die in der deutschen Bevölkerung geteilt werden, begrenzt. Was damit gemeint ist, repräsentiert Thilo Sarrazin am besten.
Es gab Stimmen, die behaupteten, dass Sarrazins Buch eine gelungene Dokumentation für die Defizite in der Integrationspolitik und für ihr Scheitern ist. Dieses Buch bietet aber auch eine andere Lesart an.
Der Buch-Autor ist ein Repräsentant des bürgerlichen Milieus, das aus der Mitte der Gesellschaft entspringt. Mehr noch – er war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung auch Träger eines staatstragenden Amts, das mit Prestige und Macht verbunden ist. Das Buch kann daher auch als eindrucksvoller Beleg dafür angeführt werden, dass zumindest Vorurteile in die Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen sind – jener soziologische Ort, in dem einflussreiche Leistungsträger der Gesellschaft Arbeit schaffen und Arbeit vergeben.
Capraz ist stark. Er hat nach seinem Realschulabschluss eine Ausbildung abgeschlossen. Berufsbegleitend hat er sein Abitur nachgeholt, um dann Jura zu studieren. Heute ist er selbstständiger Rechtsanwalt. Er resigniert nicht. Aber er akzeptiert die „unsichtbare Mauer“, die er nicht überwinden konnte. „Ich werde dorthin gehen, wo mir Chancen angeboten werden. Und das ist die Heimat meiner Eltern. Das ist aber nicht meine Heimat. Meine Heimat ist Düsseldorf“. Er wird Anfang 2011 Deutschland in Richtung der Türkei verlassen. Und zum Schluss leuchtete doch etwas auf, das an Resignation erinnert. „Deutschland hat mich müde gemacht“, sagt er. Wirtschaft
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